Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Psychosoziale Arbeit in der Psychiatrie - systemisch oder subjektorientiert? Ein Lehrbuch.

Sigrid Haselmann hat ein hervorragendes Lehrbuch zur psychosozialen Arbeit in der Psychiatrie vorgelegt. Die Kombination von Einführung in das sozialpsychiatrische Arbeitsfeld, Vorstellung des subjektorientierten und systemischen Ansatzes und durchgängigen Reflexionen, was dies für die real existierende ost- und westdeutsche Praxis der Sozialpsychiatrie bedeutet, ist sehr gelungen.

Arbeitsfeld Soziale Psychiatrie

Im ersten Kapitel wird das Arbeitsfeld Soziale Psychiatrie im ideellen und strukturellen Kontext beleuchtet. Es ist sicherlich richtig, dass es auch sehr behandelnde, bevormundende Arbeitstile auch in einer sozialpsychiatrischen Tagesstätte geben kann und ebenso sehr emanzipatorische, Empowerment orientierte Arbeitstile in einer "normalen" psychiatrischen Klinik. Aber nach meiner Erfahrung hat die Struktur einer Institution eben doch auch großen Einfluss auf die Handlungsmöglichkeiten. Eine Klinik mit einem biologisch orientierten Chefarzt wird sicherlich weniger Spielraum für einen systemisch-subjektorientierten Stil lassen, als ein Sozialpsychiatrischer Dienst mit einem Systemischen Therapeuten als Chef.

Für mich als westdeutschen Mitarbeiter waren die Ausführungen zur Entwicklung der (Sozial-)Psychiatrie von den Zeiten der DDR zu den heutigen ostdeutschen Bundesländern neu und sehr interessant. Die genannten aktuellen Trends derSozialpsychiatrie (Soteria, der gemeindepsychiatrische Verbund, der IBRP, Psychoseseminare, Selbsthilfe) werden zu Recht benannt, zeigen aber auch die großen Schwierigkeiten bei der Weiterentwicklung der Psychiatriereform. So wird z.B die flächendeckende Umsetzung des Soteria-Konzeptes so lange auf sich warten lassen, wie die Dominanz der biologisch-pharmazeutischen Psychiatrie anhält. Eine bundesweite integrierte Versorgung scheitert an den bürokratischen Hürden und den berufsständischen Besitzstandswahrungen und unnötigen Hierarchien und einer zu schwach ausgeprägten klinischen Sozialarbeit.

Hilfe und Fürsorge

Interessant ist die Diskussion zum schwierigen Thema "Hilfe und Fürsorge" in der psychosozialen Arbeit. Die genaue Auftragsabklärung aus systemischer Sicht ist der erste wichtige Schritt um Klarheit zu gewinnen. Was aber, wenn aber ein Klient aufgrund seiner Sozialisation nicht genügend Ressourcen hat für sich zu sorgen oder seine Lebensbedingungen unmenschlich sind? Auf diese Fragen finden der systemische und der subjektorientierte Ansatz nicht genügend Antworten. Die subjektorientierte Sichtweise wird sicherlich bei ungenügenden Ressourcen des Klienten im Zweifelsfall eine fürsorgliche Haltung einnehmen und durch entsprechende Betreuungsangebote versuchen die Defizite auszugleichen.

Die systemische Sichtweise würde bei ungenügenden Ressourcen irgendwann die psychologische Suche aufgeben und dieses Problem an ein für den Therapeuten nicht erreichbares Teilsystem der Gesellschaft verweisen. Unmenschliche Lebensbedingungen bekämpfen beide Ansätze nicht. Nur eine politisch akzentuierte psychosoziale Arbeit kann die Veränderungen der Lebensbedingungen ins Blickfeld nehmen. Der Ansatz von Staub-Bernasconi, der soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession sieht, bietet hierzu Antworten.

Subjektorientierte Sichtweise

Die Darstellung der subjektorientierten Sichtweise wird mit einer Einführung in die Handlungsfelder der Sozialpsychiatrie kombiniert und immer wieder schon quasi vorausblickend mit der systemischen Sichtweise konfrontiert. Diese Vermischung könnte vielleicht bei Anfängern zu Verwirrung führen. Da das Buch als Lehrbuch konzipiert ist, wäre hier vielleicht eine sauberere Trennung sinnvoll. Andererseits ist diese Vorgehensweise auch eine Stärke des Buches, da dies der Realität näher kommt. Ich habe mich beim Lesen immer wieder zustimmend nickend erlebt (Ja, dass kenne ich auch aus meiner Tätigkeit in der Sozialpsychiatrie, genau- das sind die Knackpunkte).

Ein Beispiel dazu: Das Problem einer komplementär verstrickten Beziehung zwischen den Psychiatriebetroffenen, seiner Familie und den betreuenden Institutionen wird zurecht deutlich angesprochen und kann im bestehenden Psychiatriesystem von einer subjektorientierten Sichtweise nicht alleine aufgelöst werden. Ein systemischer Ansatz bringt hier frischen Wind in den chronifizierten Verlauf. Dieser wird aber häufig von der überwiegend nicht –systemisch arbeitenden Psychiatrie häufig wieder zunichte gemacht.

Die syystemische Perspektive

Das 3. Kapitel "die systemische Perspektive" ist das umfangreichste und bietet eine hervorragende Einführung in die Denk- und Handlungsmodelle dieser Richtung, insbesondere in die Besonderheiten der systemischen Sozialarbeit und der systemischen Psychiatrie. Die Nennung der Schwachstellen (z.B. fehlende Verstehensbegleitung, mangelnde Begegnung) erfolgen zu Recht und können hier sehr gut durch einen subjektorientierten Ansatz ausgeglichen werden.

Beide Ansätze sind nötig, wenn ich den Psychiatrieerfahrenen gerecht werden und in diesem komplexen Arbeitsfeldprofessionell bestehen will. Die Kombination einer systemischen und einer subjektorientierten Arbeitsweise hat sich auch in meiner 19 jährigen praktischen Tätigkeit in einem Sozialpsychiatrischen Dienst bewährt. Dies hat aber auch Konsequenzen für die Aus- und Weiterbildung der Berufe im sozialpsychiatrischen Feld.

Anstöße zur Lösungsfindung/Veränderung

Der Trend aus Kostengründen auch geringer qualifizierte Mitarbeiter einzustellen sollte deshalb gestoppt werden. Eine verpflichtende sozialpsychiatrisch-psychotherapeutische Weiterbildung (mit einem subjektoriententen/systemischen Schwerpunkt) für alle Berufsgruppen in der (Sozial-)Psychiatrie ist dringend notwendig, dann können auch die zu Recht genannten Syntheseaufgaben im 4. Kapitel "Verstehensbegleitung/Beziehungsarbeit und Anstöße zur Lösungsfindung/Veränderung" gemeinsam mit den Betroffenen besser bewältigt werden.

Die wichtigen genannten idealtypischen Stationen des Hilfebedarfs im Schlusskapitel benötigen aber noch viel gemeinsames politisches Vorgehen von Betroffenen, Angehörigen und Professionellen. Gerade die aktuelle Wirtschafts- und Finanzkrise bietet hierzu die Gelegenheit die Frage zu stellen, ob und wie wir Solidarisch Mensch werden wollen – auch in der Psychiatrie.

Jürgen Leuther in Online-Journal für systemische Entwicklungen: www.systemagazin.com

Letzte Aktualisierung: 01.09.2023