Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
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Psychiatrie Verlag

Zehn Tage im Irrenhaus

Nellie Bly (1864 bis 1922) gilt als die beste Reporterin im Amerika der Jahrhundertwende und als unerschrockene Pionierin des investigativen Journalismus. Sie war berühmt für ihr unerschütterliches Selbstbewusstsein, ihre Beherztheit und ihren Charme sowie für ihr Engagement und ihre Empathie für die Unterprivilegierten. Bereits zu Lebzeiten war sie eine Legende, fast jeder/jede Amerikaner/-in hatte von ihr gehört.

Besonders schnell vom Flugsand der Zeit verdeckt

Dass sich ihr Bekanntheitsgrad gut hundert Jahre später etwas minimiert hat, mag damit zusammenhängen, dass, wie Reich-Ranicki sagt, es das "natürliche Schicksal" der Reportage ist, "besonders schnell vom Flugsand der Zeit verdeckt" zu werden. Immerhin sind bis heute alle Texte und Bücher von ihr in den Vereinigten Staaten erhältlich, darunter mehrere Biografien über sie, geschrieben für Kinder.

Als Journalistin entdeckt wurde Nellie Bly 1884 in Pittsburgh, als sie auf eine frauenfeindliche Kolumne im "Pittsburg[h] Dispatch" einen brillanten Leserinnenbrief schrieb, der den Herausgeber derart beeindruckte, dass er ihr eine Stelle als Reporterin anbot. Er war auch derjenige, der Elizabeth Cochran, die zu Zeiten des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges geboren wurde, das Pseudonym Nellie Bly gab, da es für schreibende Frauen zur damaligen Zeit üblich war, nicht unter ihrem eigenen Namen zu schreiben.

Für ihre unterprivilegierten Schwestern engagiert

Nelly Bly war der Name einer schwarzen Dienerin aus einem populären Volkslied von Stephen Foster, einem bekannten Volksliederschreiber ("Nelly Bly! Nelly Bly! Never, never sigh; / Never bring the tear drop to the corner of your eye"). Dass sie sich ein Leben lang für ihre unterprivilegierten Schwestern engagiert hat, passt zu ihrem Namen. Als Nellie Bly nach einer Weile in die Frauenredaktion versetzt wurde und einen Artikel über Gärtnern verfassen sollte, da Firmen gedroht hatten, aufgrund Blys gesellschaftskritischen Artikeln ihre Annoncen zurückzuziehen, reichte sie gleich mit dem fertigen Artikel ihre Kündigung ein und ging nach New York.

Mit dem für sie typischen Erfolgsmotto "Energie richtig eingesetzt und gesteuert, bringt alles zustande" bekam sie eine Anstellung in Joseph Pulitzers "New York World". Dort erhielt sie den Auftrag, sich auf Blackwell’s Island undercover als Patientin in die Frauenpsychiatrie Bellevue Hospital einzuschmuggeln und über die Anstalt zu schreiben, und dies unter dem Namen Nellie Brown. (Blackwell’s Island, heute Roosevelt Island, war damals eine berüchtigte Insel im East River zwischen Manhattan und Brooklyn, auf der unter anderem Langzeit-Psychiatrie-Erfahrene und auch Schwerverbrecher untergebracht waren.)

Blackwell’s Island ist ein Ort für Irre

Nellie Bly zögerte keine Minute, auch wenn ihr klar war: "Blackwell’s Island, ein Ort für Irre, von dem du niemals wieder wegkommen wirst." Nachdem Nellie Bly als Nellie Brown eine Nacht lang Grimassen vor dem Spiegel eingeübt hatte, ebenso einen starren Blick mit weit aufgerissenen Augen, und alte Kleider angezogen hatte, suchte sie im Adressbuch ein Behelfsheim für Frauen, um dort ihr Debüt als behandlungsbedürftige Verrückte zu geben und schnell in die Anstalt zu kommen. Ihr Trick war es, sich zu weigern, ins Bett zu gehen, aus Angst vor den verrückt aussehenden Mitbewohnerinnen, was zur Folge hatte, dass Nellie tatsächlich als verrückt angesehen wurde. Am nächsten Morgen wurde sie von der Polizei abgeholt, um sie wegen eines Unterbringungsbescheids dem Gericht vorzuführen. Sie habe Gedächtnisverlust, gab sie dort an.

Nellie war voll klammheimlicher Freude, dass es ihr tatsächlich gelungen war, die Ärzte und die Richter von ihrem ver-rückten Geisteszustand zu überzeugen. "Danach hatte ich eine geringere Achtung vor den Fähigkeiten der Ärzte als jemals zuvor und eine umso größere vor mir selbst. Ich war mir jetzt sicher, dass kein Arzt sagen konnte, ob ein Mensch geisteskrank war oder nicht, solange der Fall nicht besonders heftig war", schlussfolgerte sie. In der Anstalt lernte sie sehr schnell von den anderen Insassinnen, dass die Ärzte sich weigerten, den Patientinnen zuzuhören, und dass es völlig nutzlos war, mit den Schwestern zu reden.

Die Zustände waren schlimm

Die Zustände waren schlimm, das Essen war eine Katastrophe. Es gab Haferschleimbrühe, vergammeltes Fleisch, trockenes, pampiges Brot, teils mit Spinnen gewürzt, kalten Tee und dreckiges, nicht trinkbares Wasser. Die gefährlichen Patientinnen wurden an einem Seil zusammengebunden und mussten stundenlang in der Kälte auf harten Bänken still sitzen. Abfall lag überall, auch im Essbereich. Ratten liefen in der gesamten Klinik herum. Zum Baden wurde eisiges Wasser eimerweise über die Köpfe geschüttet.

Die Krankenschwestern herrschten die Patientinnen an, den Mund zu halten, und schlugen sie, wenn sie dies nicht taten. "Die Prügel, die ich dort erhielt, waren schrecklich. Ich wurde an den Haaren herumgezogen und unter Wasser gehalten, bis mir die Luft ausging. Ich wurde getreten und gewürgt." Durch Gespräche mit ihren Mitpatientinnen stellte Bly fest, dass einige geistig normal wie sie selber waren. Nach zehn Tagen wurde Bly von einem Beauftragten der Zeitung gerettet.

Zehn Tage im Irrenhaus

Nellies Artikel in der "New York World" – "Hinter Anstaltsgittern" und "Im Irrenhaus" –, die aufgrund des großen öffentlichen Interesses als Buch unter dem Titel "Ten Days in a Mad-House" (Zehn Tage im Irrenhaus) herauskamen, lösten eine Sensation in New York aus und brachten ihr bleibenden Ruhm ein.

Während blamierte Mediziner und das Personal linkisch zu erklären versuchten, warum so viele Profis sich zum Narren hatten machen lassen, gab es endlich einen Ermittlungsausschuss mit einer klinikunabhängigen Untersuchung zu den unhaltbaren Zuständen in der Anstalt. Nellie Bly wurde als Mitarbeiterin dazugebeten. Der Bericht des Ausschusses dokumentierte die spürbare Veränderung, die Bly ausgelöst hatte. Die Forderung nach üppigeren Geldsummen für die Pflege von psychisch Kranken zur Verbesserung der Anstaltsbedingungen brachte eine Steigerung von 850.000 Dollar im Budget der Abteilung für gemeinnützige Wohltätigkeit und Umerziehungsmaßnahmen.

Änderung zum Wohle der psychisch Kranken

Endlich trat eine Änderung zum Wohle der schutzbefohlenen psychisch Kranken ein. Und alles nur, weil eine furchtlose junge Frau die psychiatrische Frauenanstalt auf Blackwell’s Island als "Gruft des lebendigen Grauens" glaubhaft und mit Intelligenz, Chuzpe und Empathie beschrieben hatte. Der Rest ist Geschichte.

Dass die legendäre, 124 Jahre alte Reportage von Nellie Bly "Zehn Tage im Irrenhaus" nun endlich auch auf Deutsch im kleinen und feinen Berliner AvivA-Verlag erschienen ist, bringt in gute Stimmung. Das Buch gehört in meinen Augen wie seinerzeit das wunderbare Jugendbuch "Tom Sawyer und Huckleberry Finn" (von Mark Twain) den heutigen Jugendlichen ans Herz gelegt, ganz zu schweigen den alterslosen Freundinnen und Freunden von guten Geschichten. Herausgegeben und übersetzt ist das Buch von Martin Wagner, die informativen Fußnoten und das kenntnisreiche Nachwort sind ebenfalls von ihm, im Letzteren stellt er auch die Psychiatriegeschichte um 1900 dar.

Kein Tränenepos

Lediglich über die Entscheidung Wagners, diskriminierende Begriffe wie Irre und Geisteskranke im Buch auch die Heldin benutzen zu lassen statt heutige, akzeptable wie psychisch Kranke und Verrückte, ließe sich streiten. Nellie Blys Buch ist kein so genanntes Tränenepos, seine Lektüre ist erstaunlicherweise gut auszuhalten, es macht bei der Lektüre seltsam gute Laune, denn der Widerstandsgeist der Hauptprotagonistin trägt die Geschichte und macht sie liebens- und lesenswert. Auch wenn Nellie Bly als (Gebrauchs-)Journalistin keine bedeutende Literatin war, schrieb sie dennoch mit ihren beeindruckenden, heute noch fesselnden Reportagen Zeitgeschichte.

Kurzum: Nellie Blys unorthodoxe Qualitätskontrolle der besonderen Art müsste die Verteidiger/-innen der Sozialpsychiatrie ohne Wenn und Aber begeistern.

Brigitte Siebrasse in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 23.03.2017