Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Psychiatriegeschichte

(...) Geschichtliches Wissen ist ein wichtiges Orientierungsmittel für psychiatrisch Tätige. Es erschließt die vielfältigen Traditionen der Psychiatrie als Wissenschaft und soziale Praxis, erleichtert das Verständnis der biopsychosozialen Grundlagen und ist ein Fundament für die eigenen, praxisbezogenen Standpunkte. Als Bereicherung für eine engagierte Berufspraxis verdeutlichen die historischen Kenntnisse den humanen Anspruch des Fachs, aber auch typische Schwierigkeiten und Grenzen.

Substanzielle Kontroversen werden aufgezeigt: zum Gegensatz von Vernunft und Unvernunft, zur gesellschaftlichen Funktion der Psychiatrie oder zum Verhältnis von Professionellen und Nutzern psychiatrischer Einrichtungen. So werden auch problematische Aspekte der Psychiatriegeschichte klarer, etwa hinsichtlich des Abbaus von Gewalt und Zwang oder der Rolle der deutschen Psychiatrie im Nationalsozialismus.

Aufgaben der modernen Psychiatrie

Inhaltlich knüpfe ich an die drei Aufgaben der modernen Psychiatrie an: den Sicherungsauftrag, den Behandlungsauftrag und den Forschungsauftrag. Um diese gesellschaftlichen Aufträge wahrzunehmen, vereint das Fach natur-, sozial- und kulturwissen schaftliche Ansätze. Dabei ist auch die Psychiatriehistorie längst nicht mehr auf eine reine Ideen- und Fortschrittsgeschichte "von, für und über Psychiater" beschränkt (Micale /Porter 1994, S. 7). Denn die neuere Psychiatriegeschichtsschreibung bezieht sich auf die gesamte Kultur der Hilfe für schwer psychisch leidende Menschen. Somit umfasst die vorliegende Darstellung:

  1. den sozialen Ort der Behandlungen (Institutionen- und Professionsgeschichte),
  2. die theoretischen Kontroversen (Begriffs- und Problemgeschichte) und
  3. die Erfahrungen im Umgang mit psychischem Leid (Alltags- und Patientengeschichte).

Institutionen-, Begriffs- und Alltagsgeschichte

Die drei Säulen Institutionen-, Begriffs- und Alltagsgeschichte ergänzen sich gegenseitig unter dem Dach der Sozialgeschichte der Psychiatrie. Diese Sozialgeschichte untersucht die gesellschaftlichen Hintergründe,welche die institutionelle Praxis, die wissenschaftlichen Begriffe sowie das Leben mit psychischem Leid beeinflussen. Insbesondere berücksichtigt sie die zeitgebundene Bewertung von Vernunft und Unvernunft zusammen mit den sozialpolitischen Vorgaben und dem entsprechenden Auftrag an Experten und Institutionen. Als Wissenschaftsgeschichte bezieht sich die Sozialgeschichte auch auf interkulturelle und interdisziplinäre Aspekte sowie auf die mentalitätsgeschichtlichen Wandlungen des Menschenbildes.

Offenen und fragenden Haltung gegenüber der Geschichte

So möchte ich die Leserinnen und Leser mit einer offenen, fragenden Haltung gegenüber der Geschichte vertraut machen, denn die historische Perspektive ist meiner Erfahrung nach eine bedeutende Ressource für die professionelle Identitätsbildung und Selbstreflexion im kollegialen Gespräch. Geschichtsloses Handeln wäre blind gegenüber den historischen Erfahrungen, und die aktive Aneignung der Geschichte schärft das Bewusstsein für die berufliche Verantwortung.

Die heutigen Praktiken und Konzepte werden als geschichtliche Produkte wahrnehmbar und als veränderbar erfahren. Durch die historische Erkenntnisdistanz werden aktuelle Diskussionen verständlicher und der Praxisdruck geringer. Die Kenntnis der Geschichte wird zum Handwerkszeug, um sich den Anforderungen im beruflichen Alltag besser stellen zu können.

Von der Weimarer Republik bis heute

Auf den anderen Seiten werden die wesentlichen Aspekte der Psychiatriegeschichte von der Weimarer Republik bis heute zusammengefasst aus dem Buch von Burkhart Brückner dargestellt.

Literatur

  • Blasius, D. (2015): Einfache Seelenstörung. Geschichte der deutschen Psychiatrie. Fischer Verlag.
  • Blasius, D. (2015): Der verwaltete Wahnsinn. Eine Sozialgeschichte des Irrenhauses. Fischer Verlag.
  • Brink, C. (2010): Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860-1980. Wallstein Verlag.
  • Brückner, B. (2007): Delirium und Wahn. Geschichte, Selbstzeugnisse und Theorien von der Antike bis 1900. Band 1: Vom Altertum bis zur Aufklärung. Pressler Verlag.
  • Engstrom, E. J.; Roelcke, V. (Hg.) (2003): Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Basel.
  • Foucault, M. (1989): Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Suhrkamp Verlag.
  • Marneros A.; Pillmann, F (2005): Das Wort Psychiatrie … wurde in Halle geboren. Von den Anfängen der deutschen Psychiatrie. Schattauer Verlag.
  • Müller, T.; Mitzscherlich, B. (Hg.) (2005): Psychiatrie in der DDR. Mabuse-Verlag.
  • Reumschüssel-Wienert, C.: Psychiatriereform in der Bundesrepublik Deutschland. Eine Chronik der Sozialpsychiatrie und ihres Verbandes - der DGSP (2021)
  • Schott, H.; Tölle, R. (2005): Geschichte der Psychiatrie. Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen. München.

Internet

 

Letzte Aktualisierung: 10.04.2024