Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Traumassoziierte Störungen

Wenn sich Menschen in Behandlung begeben, tun sie dies meistens wegen Problemen, die eng mit dem Versorgungsauftrag der Einrichtung verbunden sind. Sie kommen wegen ihrer Psychose, wegen einer Suchterkrankung oder weil sie beruflich wieder einsteigen möchten. Mittlerweile wissen wir aber, dass mehr als die Hälfte der psychisch kranken Menschen in ihrem Leben Gewalt und traumatischen Erlebnissen ausgesetzt waren und sind. (...)

Was ein traumatisches Ereignis ist, wird im DSM-IV so definiert: Die betroffene Person war einer Situation ausgesetzt, in der folgende Bedingungen erfüllt waren:

  • Die Person war selbst oder als Zeuge mit einem Ereignis konfrontiert, das den Tod, Todesbedrohung oder eine ernsthafte Bedrohung der physischen Integrität von sich selbst oder anderen Menschen zum Inhalt hatte.
  • Die Person reagierte mit starker Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen.

Martin Sack (2010) schlägt noch ergänzende Kriterien für eine Traumadefinition vor, die sich auf die Traumatisierung im Kleinkindalter beziehen:

  • Die betroffene Person war in ihrer Kindheit wiederholt Situationen emotionaler oder physischer Vernachlässigung ausgesetzt oder wurde wiederholt vorsätzlich und ohne Grund entwertet, gedemütigt oder angeschrien.
  • Die betroffene Person reagierte mit starker Angst, Hilflosigkeit oder Entsetzen. (...)

Diagnostik und Häufigkeit

Mit traumatischen Erfahrungen sind überwältigende Erfahrungen der Ohnmacht und Hilflosigkeit verbunden. Viele Menschen reagieren auf das Ereignis zunächst mit Herzrasen oder Schweißausbrüchen, traumatischen Erinnerungen und starken emotionalen Reaktionen, wie Angst, Wut oder Trauer. (...)

Im weiteren Verlauf können genau diese Reaktionen zu erheblichen Problemen für Betroffene führen. Sie werden zur psychischen Störung. Wir stellen Ihnen hier verschiedene Traumafolgestörungen zusammenfassend vor. Die Übergänge und Abgrenzungen sind teilweise fließend und manchmal schwer zu diagnostizieren. (...)

Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)

Eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) kann als unmittelbare Folge oder um Wochen oder Monate verzögert nach einem traumatischen Ereignis auftreten. Studien weisen darauf hin, dass etwa 25 Prozent der von einem traumatischen Ereignis betroffenen Menschen eine PTBS entwickeln.

Die typischen Symptome einer PTBS sind sich aufdrängende belastende Erinnerungen an das Trauma, das Vermeiden von Auslösereizen, eine veränderte emotionale Reaktionsbereitschaft. Das vegetative Erregungsniveau ist erhöht, dies bedeutet, dass sich die Betroffenen ständig in Alarmbereitschaft befinden. (...)

Etwa 8 Prozent der Bevölkerung erkranken im Laufe ihres Lebens an einer PTBS (Kessler u. a. 1995). Bei Menschen mit psychischen Störungen werden regelmäßig Raten zwischen 29 und 43 Prozent berichtet (z. B. Mueser u. a. 2004). (...)

Voraussetzung dafür, dass eine PTBS diagnostiziert werden kann, ist zum einen, dass Betroffene einem Geschehen mit katastrophalem Ausmaß ausgesetzt waren, das bei fast jedem Verzweiflung auslösen würde. Zum Zweiten geht das DSM-IV davon aus, dass die Betroffenen sich entweder nicht an wichtige Aspekte der Belastung erinnern können oder dass sie anhaltende Symptome erhöhter Erregung mit mindestens zwei der folgenden Merkmale haben:

  • Ein- und Durchschlafstörungen,
  • Reizbarkeit oder Wutausbrüche,
  • Konzentrationsstörungen,
  • Hypervigilanz (d. h. übermäßige Wachsamkeit),
  • Schreckhaftigkeit. (...)

Komplexe PTBS

Die komplexe PTBS umfasst noch weitere Störungen und Symptome in folgenden Bereichen:

  • Betroffene zeigen große Schwierigkeiten, Gefühle wahrzunehmen, zu unterscheiden und angemessen zum Ausdruck zu bringen. (...)
  • Die Aufmerksamkeit ist beeinträchtigt durch dissoziatives Erleben und es treten Erinnerungslücken und Amnesien auf.
  • Die Betroffenen leiden nicht selten unter zusätzlichen körperlichen Beschwerden. (...)
  • Die Beziehungen zu anderen Menschen verändern sich. Sehr stark ausgeprägt ist dabei die Unfähigkeit, zu vertrauen und Beziehungen mit anderen aufrechtzuerhalten. (...)
  • Bei vielen Betroffenen gerät ihr Bild von der Welt völlig aus den Fugen. (...)
  • Viele Betroffene erleben im Laufe ihrer Krankheitsgeschichte, Therapien und Klinikaufenthalte, dass ihre Beschwerden und Symptome unterschiedlich eingeordnet und diagnostiziert werden.  (...)

Hintergründe

Man geht davon aus, dass Menschen in traumatischen Situationen psychisch massiv überfordert sind. Die Überforderung äußert sich in dissoziativem Erleben. (...) Unsere Seele reagiert auf unerträgliche Situationen mit einem Mechanismus der Entfernung und Abspaltung von den realen Ereignissen. Man spricht von Dissoziation. Sie ist eine Art Selbstschutz, ein Überlebensmechanismus, wenn wir es nicht mehr aushalten können in traumatischen Situationen. Bei einem einmaligen Ereignis ist es leichter, im Nachhinein die Ereignisse zu rekonstruieren, Erinnerungslücken zu schließen und dissoziierte Erinnerungsfetzen zu integrieren. (...)

Viel schwieriger und nachhaltiger ist die Schädigung durch wiederholte Traumata wie z. B. durch wiederholte Kindesmisshandlungen oder Vergewaltigungen. Es kommt immer wieder und über längere Zeiträume zu dissoziativen Reaktionen. (...)

Die Art und Weise, wie Traumata bei einer PTBS verarbeitet werden, lässt sich nach Sack (2010) so zusammenfassen:

  • Traumatisierungen sind durch Angst und extreme Stressreaktionen gekennzeichnet.
  • Während des Traumas kommt es zu einer Überforderung der normalen Fähigkeit zur Informationsverarbeitung.
  • Durch Dissoziationen werden die Erinnerungen an das traumatische Erlebnis nicht als Ganzes abgespeichert.
  • Die traumatische Erfahrung wird in losgelösten Teilen im impliziten Gedächtnis abgespeichert.
  • Die Erinnerungsfetzen werden nicht in eine zusammenhängende Geschichte integriert. Sie bleiben isoliert und können durch verschiedene Auslösereize wieder geweckt werden.
  • Die Verarbeitung und Entwicklung einer zusammenhängenden Geschichte der traumatischen Erfahrungen bleiben auch längerfristig erschwert, weil sie mit starken Gefühlen und einer hohen inneren Erregung verbunden sind. Das heißt, die Erinnerungsfetzen bleiben isoliert und kehren wieder in Form von Albträumen und Flashbacks.

Was hilft im Alltag?

Sicherheit, Kontrolle und Autonomie stärken

Traumatische Erfahrungen sind geprägt von einem starken Maß an Hilflosigkeit und Kontrollverlust. Betroffene fühlen sich in diesen Situationen machtlos und ausgeliefert. Daher ist Sicherheit für Betroffene am allerwichtigsten.

Sie benötigen deshalb bei Behandlungsmaßnahmen Kontrolle und die Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen. Unklare Grenzen, ständig wechselndes Personal, unberechenbare Gesprächssituationen und große Gruppen verunsichern sie eher. Sie sollten die Möglichkeit haben, sich aus Situationen, die sie überfordern, zurückzuziehen. (...)

Grenzen von Betroffenen sollten immer respektiert werden. Betroffene sollten selbst steuern, was sie von sich preisgeben und wie stark sie sich engagieren und einlassen. Wenn sie ihre Bezugsperson selbst aussuchen können und viele Wahlmöglichkeiten haben, stärkt das ihre Autonomie. Sie sollten Behandlungs- oder Rehabilitationsentscheidungen möglichst eigenverantwortlich treffen. Ermutigen Sie Ihre Klienten, eigene Grenzen zu setzen, wenn es zu viel wird, wenn sie beispielsweise zu viel Kontakt mit Mitbewohnern erleben. (...)

Empathie, Verständnis und Informationen

An zweiter Stelle für einen traumasensiblen Umgang stehen Verständnis und Empathie für die vielfältigen Folgen einer Traumatisierung und die emotionalen Reaktionen von Betroffenen. Betroffene erfahren so, dass ihre Reaktionen verständlich und in Ordnung sind. (...)

Durch Verständnis, Empathie und Informationen werden die Bewältigungsversuche der Betroffenen gewürdigt und erste Schritte zur Verarbeitung und zu günstigeren Bewältigungsstrategien angestoßen. (...)

Strukturen und Maßnahmen traumasensibel gestalten

Viele strukturelle Aspekte in psychosozialen Einrichtungen, wie mangelnde Rückzugsmöglichkeiten, unangemeldete Kontrollen oder Rundgänge, invasive medizinische Untersuchungen, ein geringer Grad der Beteiligung der Nutzer oder zu große Gruppen können das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit auslösen.

Versuchen Sie, Risiken für Retraumatisierungen zu reduzieren. Hierfür sollten Sie auslösende Situationen für heftige Emotionen gemeinsam mit Ihren Klienten rekapitulieren und die Auslöser identifizieren. (...)

Den Überlebenskünstler sehen

Viele Betroffene verfügen über ungeahnte Ressourcen. Die meisten haben irgendwie überlebt trotz widrigster Lebensbedingungen. Es ist wichtig, einen Blick für all die Ressourcen, Kompetenzen und Überlebensstrategien der Menschen zu entwickeln. An diese Ressourcen sollte angeknüpft werden. Sie sollten gestärkt werden, um Widerstandskräfte und neue Lebensmöglichkeiten zu entwickeln.

Ressourcen können Ausgangspunkte für eine soziale und berufliche Integration sein. Bei Dingen, die sie gut können, fühlen sich die meisten Betroffenen sicherer und selbstwirksamer als in anderen Lebensbereichen.

Stabilisierung als Ziel

Neben den strukturellen Maßnahmen, die Betroffenen mehr Sicherheit bieten, können Sie in ganz vielen Behandlungssettings zur Stabilisierung der Betroffenen beitragen. Alles, was Betroffenen hilft, im Hier und Jetzt anzukommen und zu bleiben, stärkt ein Gefühl der Sicherheit, während Flashbacks, Intrusionen und Albträume weg in die bedrohliche Vergangenheit führen.

Aufmerksamkeitslenkung in die Gegenwart tut gut und ist heilsam. Dabei kann es sich um ergotherapeutische Aufgaben handeln, um Kochen in der Wohngruppe, einen Spaziergang im Wald oder Übungen im Rahmen der Bewegungstherapie. Legen Sie den Fokus auf die Gegenwart. Alltagsnahe Achtsamkeitsübungen klären und beruhigen. Imaginative Übungen, die etwas mit Sicherheit, Ruhe und Geborgenheit zu tun haben, wie z. B. "Der Ort der Ruhe und Geborgenheit" wirken stabilisierend.

Literatur

  • Eidmann, F. (2009): Trauma im Kontext. Integrative Aufstellungsarbeit in der Traumatherapie. Göttingen.
  • Fischer, G.; Riedesser P. (2009) Lehrbuch der Psychotraumatologie. Stuttgart.
  • Gahleitner, S. B. (2011): Das Therapeutische Milieu in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen - Trauma- und Beziehungsarbeit in stationären Einrichtungen. Psychiatrie-Verlag, eBook.
    [Zur Buchbesprechung]
  • Gräbener, J. (2013): Umgang mit traumatisierten Patienten. Psychiatrie Verlag, Basiswissen.
    [Zur Buchbesprechung]
  • Hanswille, R.; Kisseneck, A. (2008) Systemische Traumatherapie. Konzepte und Methoden für die Praxis. Heidelberg.
  • Herman, J. L. (2006) Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden. Paderborn.
  • Reddemann, L.; Dehner-Rau, C. (2007) Trauma. Folgen erkennen, überwinden und an ihnen wachsen: Ein Übungsbuch für Körper und Seele. Stuttgart.
  • Reddemann, L. (2003) Imagination als heilsame Kraft. Stuttgart.
  • Sachsse, U. (Hg.) (2009): Traumazentrierte Psychotherapie. Theorie, Klinik und Praxis. Stuttgart.
  • Seidler, G. H.; Eckart, W. U. (Hg.) (2005): Verletzte Seelen - Möglichkeiten und Perspektiven einer historischen Traumaforschung. Psychosozial Verlag.
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Internet

 

Letzte Aktualisierung: 22.03.2024