Es geschieht nicht häufig, dass ich durch das Schreiben einer Rezension getriggert werde. Doch die vielen Beschreibungen von Pflegewohngemeinschaften haben es geschafft. Ich fühlte mich zurückversetzt in meine letzten Jahre als Sozialarbeiterin im Sozialpsychiatrischen Dienst. Ich litt nicht unter der Schwere der Aufgabe: der Prüfung des ergänzenden Pflegebedarfs nach SGB XII. Ich litt an deren Unsinnigkeit.
Da es die Thematik des rezensierten Bandes betrifft, sollte ich es vielleicht ausführlicher erklären: Die Bewohner dieser Berliner Demenz-WGs waren bereits vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) begutachtet und eingestuft. Unsere Aufgabe war es nun, mit der Pflegefirma entweder die insgesamt erforderlichen Leistungskomplexe auszuhandeln und mit ungeheuren Mengen von Papier zu befürworten, oder – bei anerkannter Demenz oder Pflegestufe II – die in Berlin ausgehandelte Pauschale in einer Pflege-WG zu bestätigen. Ich habe also unzählige Pflege-WGs und ihre Bewohner gesehen und gesprochen. Nicht immer sind es die mit großer Hoffnung begrüßten innovativen, die Selbstbestimmung fördernden Projekte.
Der vorliegende Band berücksichtigt fast alle Aspekte, also auch diesen. Klaus-W. Pawletko, der in Berlin vor 20 Jahren die erste Pflege-WG mitbegründete, meint dazu: »Viele dieser Wohngemeinschaften sind bei näherer Betrachtung vom Organisationsprinzip her als ›Kleinstheime‹ zu bewerten, die von einem ›betreibenden‹ Pflegedienst dominiert werden und bei denen das Hausrecht – leider – nicht von den dort wohnenden Menschen ausgeübt wird.« (S.65) Doch in diesem Band herrscht noch Aufbruchsstimmung, vermutlich zu recht. Initiatorinnen und Kommunalpolitiker berichten über den langen Atem, den sie bis zur Eröffnung einer Hausgemeinschaft für behinderte Menschen haben mussten. Es erzählen Eltern und ihre Kinder Leidens- und Erfolgsgeschichten; Töchter pflegebedürftiger Mütter, leitende Pflegekräfte, Vertreter von Wohnungsbauunternehmen.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband, ein Landesbeauftragter für Menschen mit Behinderung, eine Professorin für Architektur und ein einschlägig erfahrener Rechtsanwalt nehmen aus ihrer Perspektive zum Thema »Gemeinsames Wohnen« Stellung und geben Tipps. Besonders erfrischend ist der Bericht einer juristischen Betreuerin (Elke Heyden-Dahlhaus) mit dem Titel »Ecki – mein Wanderpokal«. Für diesen extrem schwierigen Klienten suchte und fand sie immer wieder neue Wohnmöglichkeiten. Bei einer neuen Pflege-WG ging organisatorisch von vorne bis hinten alles schief; aber aus Fehlern lernt die neugierige Leserin ja am meisten.
Beim nächsten Projekt klappte es schon besser, aber die Skepsis der Autorin bleibt. Und es ist schon toll zu erleben, wie es sich für Außenstehende anfühlt, wenn die Pflegewohngemeinschaft plötzlich zum Arbeitsplatz der Patienten der örtlichen Psychiatrie wird, die dann allesamt von der ambulanten Ergotherapeutin in der WG betreut werden. Insgesamt enthält das Buch 24 unterschiedlich lange Beiträge. Glücklicherweise wurde darauf verzichtet, alles einer einheitlichen Struktur zu unterwerfen. So bilden unterschiedliche Sprachen, Stile und Perspektiven eine bunte Vielfalt. Natürlich wird jedes Mal neu in die Thematik eingeführt, was ein wenig redundant ist.
Deshalb kann aber auch jeder Beitrag ganz für sich gelesen werden. Überhaupt empfehle ich die Lektüre in Etappen. Man kann dann immer wieder Neues entdecken und lernen und ist so letzten Endes sehr gründlich eingeführt. Einige Details wären nach aktuellster Gesetzeslage zu prüfen, vor allem bei paralleler Gewährung von Leistungen der Pflege und Teilhabe, je nach Alter der Bewohner. Das Buch ist eine hervorragende Anregung für alle, die mit der Gründung einer Wohnmöglichkeit – für sich selbst oder andere – liebäugeln. Aber auch Studierende werden fündig, denn es enthält Verweise auf zahlreiche Studien und Forschungsprojekte.
Ilse Eichenbrenner in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 12.04.2024