Welche mit der Psychiatrie vertrauten Menschen kennen sie nicht: Die Allgegenwärtigkeit der Gefühle – der eigenen Gefühle, die der psychiatrischen Klientinnen, und die Gefühle derjenigen, die in der Psychiatrie tätig sind?
Andreas Knuf, erfahrener Autor aus Konstanz, widmet in seinem neuen Buch eben dem Umgang mit diesen Gefühlen einen adäquaten, differenzierten und ordnenden Raum. Er tut dieses, indem er Wissen und Techniken vermittelt und konstant Gefühlen und Diffusionen nachspürt und sie reflektieren lässt. Schon in der Einleitung stellt er klar: «In der Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen geht es eigentlich von morgens bis abends um Gefühle!«
Nach der Einleitung beschreibt Knuf zunächst unter Rückgriff auf die Geschichte die Gefühlsunterdrückung in der Gesellschaft und im psychiatrischen System, die Emotionssuppression, die nicht selten zu psychischen Beeinträchtigungen führt und damit dem dysfunktionalen Umgang mit Gefühlen Vorschub leistet. Er fordert die Leserschaft auf, sich mit der eigenen Lerngeschichte in der Kindheit und frühen Jugend zum Thema Gefühle zu befassen – welche Gefühle waren gewünscht, welche eher nicht und was folgte daraus.
Für Knuf ist die Thematisierung erlernter Emotionskompetenzen bei psychisch erkrankten Menschen bei deren Betreuung und Begleitung zentral, zumal ein ungünstiger Umgangsstil mit Gefühlen eine Ursache psychischer Erkrankungen mit weiteren Folgen ist. Knuf beschreibt aber auch die Angst der Professionellen vor den Gefühlen psychisch erkrankter Personen, die nicht selten zur Ausblendung eben dieser Gefühle führt.
Im zweiten Kapitel des Buches widmet er zum besseren Verständnis den Basisgefühlen Angst Freude, Ärger, Scham, Ekel, Freude, Traurigkeit, Neugierde, und beschreibt deren Funktionen und Auswirkungen auf den Zustand und das Verhalten des Menschen, welche sich u. a. in Motivation, Entscheidungen, Aufmerksamkeit sowie Gedächtnis ausdrücken. Wie Gefühle entstehen, welche Kontrolle wir über Gefühle haben, und nach welchen Mustern Gefühle verlaufen, ist hierbei ebenso Thema, wie die Beschreibung von Gefühlskurven und Zusammenhängen bei Personen z. B. mit einer Borderlineerkrankung oder mit Depressionen.
Die Unterscheidung zwischen Unterregulation und Überregulation von Gefühlen ist nach Knuf für die sozialpsychiatrische Arbeit mit psychisch kranken Menschen von großer Bedeutung. Immer wieder werden anschauliche Beispiele von Klienten und Klientinnen angeführt, die verdeutlichen, dass die unterschiedlichen Gefühlsausprägungen auch eine unterschiedliche Unterstützung und strategische Ausrichtung seitens der Profis brauchen. Nur so kann ein besserer Zugang zu den Gefühlen gefördert und die Fähigkeit der emotionalen Kompetenz dahingehend unterstützt werden, Gefühle zu spüren, bei sich (und anderen) zu erkennen, eigene Gefühle auszudrücken und sie zu regulieren.
Arten von Gefühlen und deren Folgen für soziale Beziehungen beschreibt Knuf im dritten Kapitel. Hier ist die Botschaft an die in der Psychiatrie Tätigen, sorgsam und durchdacht einen entsprechenden Umgang mit sogenannten instrumentellen Gefühlen, primären adaptiven und maladaptiven Gefühlen, sekundären und traumassoziierten Gefühlen zu praktizieren.
Wie dieser Umgang und die Unterstützung aussehen können, beschreibt Knuf im vierten Kapitel, wobei er neben Bedingungen der Institution und dem emotionalen Klima auf die Psychoedukation bei Gefühlen eingeht. Anschaulich schildert er, welche Settings in Einzel- und Gruppensituationen hilfreich sind, um den Personen Zugang zu den Gefühlen zu ermöglichen. Hier wird auch beschrieben, was förderlich ist, um ungünstige Emotionsstrategien wie Grübeln, Vermeiden, Selbstverurteilung und Gefühlsunterdrückung zu beenden und Strategien zu erproben, die Gefühlsregulierungen ermöglichen. Auch Indikationen von Notfallskills bei extremen Gefühlen werden aufgezeigt.
Für den Umgang mit den verschiedenen Emotionen wie Angst, Scham, Trauer usw. weist er im fünften Kapitel auf die notwendige Schwingungsfähigkeit der Fachkräfte hin.
Das letzte Kapitel, »Und was fühlen Sie?«, will helfende Personen ermutigen, sich den eigenen Gefühlen zu stellen und sie kompetent auszubalancieren. Die professionelle Distanz dürfe nicht die angemessene Resonanz der Fachperson als Spiegel der Gefühle des psychisch beeinträchtigten Menschen verhindern. Gleichzeitig müsse die emotionale Abgrenzung und ebenso die Reflexion überbordender, ohnmächtiger oder vermeidender Gefühle in der Intervision und Supervision erfolgen.
Knuf ist es gelungen, die Komplexität des Themas kompetent einzufangen. Durch sein Buch wird deutlich, wie überfällig ein systematischer und reflektierter Umgang mit Gefühlen in der Psychiatrie ist. In seiner konzentrierten und kompakten Form ist es eine notwendige, fundierte und auch zur Betrachtung eigener Gefühls- und Erfahrungswelten anregende Fachlektüre, die allen Professionellen zu empfehlen ist.
Gabriele Tergeist in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 12.04.2024