Bereits ein Jahr nach Matthias Rosemanns »BTHG. Die wichtigsten Neuerungen für die psychiatrische Arbeit« bringt der Psychiatrie Verlag erneut in der Reihe »Fachwissen kompakt« ein Buch zum Bundesteilhabegesetz (BTHG) heraus. Diesmal verfasst von Michael Konrad, der mit Rosemann bereits zwei Bücher zum Betreuten Wohnen schrieb. Während Rosemann vor allem die Entstehungsgeschichte des BTHG beleuchtete, setzt Michael Konrad seinen Fokus etwas anders. Nach einführenden Kapiteln zum Paradigmenwechsel des neuen Gesetzes – z.B. konsequente Abkehr vom einrichtungsbezogenen Denken und vom Fürsorgeprinzip hin zur Personenzentrierung und zur definierten Rehabilitationsleistung – erläutert Konrad den Begriff der erheblichen Teilhabeeinschränkung vor dem Hintergrund der ICF.
Anhand von drei Buchabschnitten zu den ICF-Komponenten »Körperstrukturen und Körperfunktionen«, »Aktivitäten und Teilhabe« sowie »Umweltfaktoren« führt der Autor bereits in das neue teilhabeorientierte (Um-)Denken ein und bereitet die Leser so auf die folgenden, erfreulich praxisorientierten Kapitel zu den Assistenzleistungen vor.
Die drei genannten Abschnitte lenken den Blick dann auch bereits auf die Verknüpfung der ICF mit dem beruflichen Handeln in der Eingliederungshilfe. So merkt Konrad z.B. an, dass in der ICF die Körperfunktionen auch Aspekte der Hirnfunktionen umfassen und somit eine Rolle spielen bei der Bedarfsermittlung von Menschen, die Stimmen hören oder Schwierigkeiten bei der Affektregulierung haben. Hinweise erhalten die Leser auch zur Frage der richtigen Abgrenzung von Pflege- und Teilhabeleistungen und zum Teilhabe- sowie Gesamtplanverfahren, die übersichtlich in einer detaillierten Abbildung dargestellt werden (S. 40/41).
Etwa ab Mitte des Buches erläutert Konrad Grundsätzliches zu den Assistenzleistungen und dekliniert dann mit den Absätzen 1–6 des § 78 SGB IX die Assistenzleistungen zur sozialen Teilhabe durch. Hierbei weist er auch auf mögliche Schwierigkeiten in der Praxis hin, wie die Entscheidungsgewalt des Leistungsberechtigten über die Gestaltung der Leistungen in Bezug auf Ablauf, Ort und Zeitpunkt der Inanspruchnahme. Dabei werden mitunter aber auch etwas schmale Bretter betreten, etwa bei der Feststellung, dass seelisch beeinträchtige Leistungsberechtigte zukünftig häufig in Wohngemeinschaften nach dem Modell von Studenten-WGs leben werden.
Erhellend sind dagegen die Ausführungen zur qualifizierten Assistenzleistung als Empathiearbeit, bei der es sich eben nicht um eine therapeutische oder pädagogische Technik handele, sondern um reflektierende Begleitung. Genesungsbegleiter unter den Lesern werden womöglich über die Deutlichkeit des Autors zu den gesetzlichen Vorgaben zunächst einmal tief durchatmen müssen: Da sie nicht als Fachkraft gelten, könnten sie nicht zur qualifizierten Assistenz herangezogen werden, sondern lediglich zur vollständigen oder teilweisen Übernahme von Handlungen. Die dann genannten Beispiele (Begleitung von Klienten zu Selbsthilfe- und Interessensgruppen oder bei ehrenamtlichen Tätigkeiten) machen aber auch die Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen qualifizierter und nichtqualifizierter Assistenz deutlich.
Der Buchabschnitt, der für Mitarbeiter in der Eingliederungshilfe die meisten praktischen Hinweise bereithält, befasst sich mit den Anwendungsmöglichkeiten der Assistenzleistungen zur sozialen Teilhabe. Geschickt werden hier Unterstützungsleistungen, die auch zum Teil aus der bisherigen Eingliederungshilfe bekannt sind, mit der Logik der Teilhabe und der ICF verknüpft und schulen so die neue Denke im Sinne des BTHG. Die Praxisbeispiele sind dabei meist praxisnah und -relevant, manche ungewöhnlich, aber denkbar.
Der letzte Abschnitt des Buches greift in knapper Form die Landesrahmenverträge und die Ausgestaltung der Prüfungs- und Leistungsvereinbarungen auf und endet mit einer Schlussbemerkung, in der Konrad sehr offen die zu erwartenden Schwierigkeiten anspricht, aber auch das Fazit zieht, dass eine Rückkehr zum alten System nicht möglich sei.
An einigen Stellen durchweht der nostalgische Hauch des Überwundenen den Text (»den Behinderten«, »genetische Ressourcen«), und gelegentlich bekommt der Leser den Eindruck, dass der Autor manches als gegeben behauptet, obwohl es der individuellen Ausgestaltung und dem jeweiligen Kontext unterliegt. Aber an sehr viel mehr Stellen findet Konrad passende sprachliche Bilder, formuliert mit aufblitzendem Humor und einem Augenzwinkern. Die vielen Anknüpfungspunkte für eine teilhabeorientierte Planung der Assistenzleistungen sind für die Praxis enorm wertvoll und machen die wenigen Schwächen des Buches wett.
Ilja Ruhl in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 12.04.2024