Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Zugang zum Genuss und Genießen

Schaut man als Praktikerin oder Praktiker in die psychiatrische Versorgungslandschaft, dann kommen die Begriffe »Genuss« und »Genießen« eher selten vor. Das Versorgungssystem scheint ausschließlich nach medizinischen und wirtschaftlichen Leitbildern zu funktionieren. Die Vordenkerin der psychiatrischen Pflege im deutschen Sprachraum, Hilde Schädle-Deininger, legt nun mit dem Buch »Genuss und Genießen im Alltag fördern« eine Ermunterung vor, die beiden Begriffe mehr in den Fokus zu nehmen. Dabei macht Schädle-Deininger etwas, was sie seit Jahren mit Erfolg macht: Sie schart praxiserfahrene Pflege-Expertinnen und Pflege-Experten um sich – diesmal, um gemeinsam die Vielfalt des Genießens herauszuarbeiten. Nicht nur dies, Schädle-Deininger macht einmal mehr Ernst mit dem trialogischen Ansatz in der Psychiatrie.

»Die positiven Gefühle und Emotionen, die durch das Befassen mit Genuss ausgelöst werden, stärken die Selbstwirksamkeit und Widerstandskraft«, ist Schädle-Deininger überzeugt (S. 16). Dies ist natürlich entscheidend, wenn seelisch erkrankte Menschen auf dem eigenen Genesungsweg wieder zu sich selbst finden wollen. Den Zugang zum Genuss und zum Genießen sucht sie über das ganz Alltägliche: »In der Alltagssprache sprechen wir von ›Genussmenschen‹, wenn wir sehen, dass diese Person sich an ganz kleinen Dingen erfreut und ihr Leben einfach genießt.« (S. 19)

Schädle-Deininger unterstreicht die Wichtigkeit von sensorischen Konzepten in der Begleitung seelisch erschütterter Menschen. Im Zusammenhang mit Beeinträchtigungen täglicher Aktivitäten bringt sie auf den Punkt, was in seiner Alltäglichkeit oft vergessen wird. Sie ermutigt, bei Menschen ohne Nahrungs- und Durstgefühl biografische Arbeit hinsichtlich Lieblingsspeisen und Lieblingsgetränken zu leisten. Oder bei Störungen in der Wahrnehmung von Kälte und Wärme mit Einreibungen und Massagen zu reagieren, um ein positives Körpergefühl zu erreichen.

Die Pflegewissenschaftlerin Christel Bienstein macht sich Gedanken zur Bewegung bei Menschen in gesundheitlichen Krisen. Der Pflege-Praktiker Jonathan Gutmann gibt Hinweise zu »Stress, Achtsamkeit und alltäglicher Bewältigung«. Joergen Mattenklotz stellt einzel- und gruppenorientierte Möglichkeiten vor, die Genussfähigkeit des oder der Einzelnen zu fördern.

»Was für mich wohltuend und genussvoll ist, muss es nicht für einen anderen sein«, schreibt Annette Kleeberg (S. 284). Was als Genuss empfunden werde, sei subjektiv und individuell verschieden. Aus Kleebergs Sicht trägt Genuss zur Resilienz bei, »und ist dabei auch so alltäglich« (S. 286).

Mit dem Buch »Genuss und Genießen im Alltag fördern« schließt Schädle-Deininger eine Lücke im Regal der gegenwärtigen Pflege-Literatur. Dabei erstaunt, dass Phänomene oder Instrumentarien, die in der alltäglichen psychiatrisch-pflegerischen Arbeit als Selbstverständlichkeit erscheinen, bislang nicht inhaltlich tiefgründig und für die praktische Anwendung erarbeitet sind.

Das Buch eröffnet Perspektiven, lässt über den eigenen Tellerrand blicken – ganz egal, ob jemand Erkrankte oder Erkrankter, Angehöriger oder psychiatrisch Tätiger ist. Viel Spaß beim Weitblick.

Christoph Müller in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 14.08.2024