Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Praxisorientierung und Menschenzugewandtheit

»Musik in den Ohren, die außer mir niemand hören kann. Stimmen, die zu mir oder über mich sprechen, ohne dass jemand anderes im gleichen Raum ist. Seltsame Geräusche ... tauchen immer wieder auf – aber nur ich bemerke es.« (S. 11)

Es wundert nicht, dass Stimmenhören häufig sowohl bei den betroffenen Menschen als auch den Zu- und Angehörigen für Irritationen sorgt. Mit dem »Ratgeber Stimmenhören und andere akustische Halluzinationen« haben Menschen, die Berührungspunkte zu den Phänomenen kennen, einen barrierefreien Zugang zu Informationen und eine erste Orientierung. Der Psychotherapeut Björn Schlier und die Psychiatriefachpflegerin Annika Bremenkamp legen hiermit einen Ratgeber vor, der durch Alltagsorientierung und inhaltliche Reichhaltigkeit eine wahre Fundgrube darstellt.

Wer in der psychiatrischen Versorgung tätig ist, weiß darum, dass Stimmenhören und andere akustische Halluzinationen oft keine einmaligen Erfahrungen sind. So berichten Bremenkamp und Schlier von »stark unterschiedlichen Verläufen« (S. 18). Zum Problem werden sie erst dann, »wenn Stimmen besonders schlimme Dinge sagen« (S. 20).

Die ausgezeichnete Struktur des Buches beantwortet die ersten Fragen derjenigen, die sich mit dieser Erfahrung als Betroffener oder als Zu- und Angehöriger konfrontiert sehen. Bevor die Leserinnen und Leser erfahren, wie sie eine hilfreiche Gesprächs-haltung entwickeln können und welche Hilfsmöglichkeiten es gibt, lernen sie »Strategien und Hilfsmittel für den Umgang mit Stimmen/Halluzinationen« kennen. Sie lesen auch, wie es zu Stimmen und Halluzinationen kommt und was dazu führt, »dass sie bleiben und belastender werden« (S. 5).

Stecken denn eigentlich biologische Abläufe hinter der Erfahrung des Stimmenhörens und anderer akustischer Halluzinationen? Schlier und Bremenkamp dokumentieren, »dass bei Menschen mit Stimmen/Halluzinationen ein Teilbereich des Gehirns, der für die Verarbeitung von Gehörtem zuständig ist, auch dann aktiv ist, wenn sie Stimmen/Halluzinationen erleben« (S. 27). Auch Auslöser für Stimmen und Halluzinationen im Alltag werden thematisiert. »Jeder hat eigene solche Trigger, die die Stimme sprechen lassen bzw. Halluzinationen anstoßen oder in ihrer Intensität stärker machen. Viele dieser Trigger haben einen Bezug zur eigenen Lebensgeschichte.« (S. 29)

Die Tatsache, dass eine Pflegefachperson an dem Ratgeber mit-geschrieben hat, hätte dazu führen können, dass auch Begriffe wie Recovery und Subjektivität einen Raum bekommen – genauso wie die sozialpsychiatrischen Überlegungen, inwieweit die Erfahrungen des Stimmenhörens Botschaften einer verschwiegenen Seele sind. Gleichfalls hätte die Ermutigung zu einem Gruppenangebot in einem ambulanten und stationären Setting eine Berechtigung. Schließlich hätten auch Betroffene oder An- und Zugehörige Impulse für eine Implementierung geben können. Dies bleibt leider aus.

Diese Kritik ist eine auf hohem Niveau. Positiv hervorzuheben ist die Praxisorientierung und Menschenzugewandtheit des Ratgebers. Schlier und Bremenkamp laufen wahrhaftig nicht Gefahr, die Betroffenen aus dem Blick zu verlieren bzw. sie mit dem erfahrenen Phänomen alleinzulassen. Sie verstehen die »Stimmen als Interaktionspartner« (S. 6) und leiten betroffene Menschen zu neuen Bewertungen an.

Rundum: Trotz und mit all seiner Wissenschaftlichkeit ist der »Ratgeber Stimmenhören und andere akustische Halluzinationen« eine bedeutsame Handreichung.

Christoph Müller in Psychosoziale Umschau

Letzte Aktualisierung: 12.04.2024