Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Lebensgeschichten von psychiatrisch Pflegenden

Nicole Duveneck nimmt uns in ihrer qualitativen Studie mit auf eine zehnjährige Forschungsreise, auf der sie die Lebensgeschichten von psychiatrisch Pflegenden erforscht hat, die pflegewissenschaftliche Literatur im Bereich Psychiatrie studiert, die Theorien von Normalität und Identität ergründet und daraus ein Modell der »narrativen Identität psychiatrisch Pflegender« entwickelt hat. Damit legt sie uns einen mitreißenden, interessanten und herausfordernden Reisebericht in Form ihrer Dissertation vor. Nicole Duveneck ist als Mitglied der DGSP und des erweiterten Landesvorstands in Bremen, vor allem aber auch als Mitglied der Vorbereitungsgruppe und Moderatorin der Jahrestagung 2021 sowie als Moderatorin der Fachtagung Sozialpsychiatrie 2022 in Berlin in der DGSP gut bekannt.

Diese Arbeit macht »die Sinn- und Selbstkonstruktionen psychiatrisch Pflegender zu ihrem Gegenstand«. Diese Sicht auf sich selbst entwickelt sich unter anderem durch das Erzählen und ist erkennbar leitend für die Handlungen der interviewten Pflegenden im Beruf und im Alltag. Duveneck erarbeitet daraus ein besseres Verständnis der Pflege- und Beziehungsarbeit in der psychiatrischen Versorgung.

Das Buch ist als pflegewissenschaftliches Lehrbuch hilfreich. Der aktuelle Stand der Pflegewissenschaft wird aufgezeigt, und die Autorin stellt Bezüge zu aktuellen Themen wie der PPP-Richtlinie zur personellen Ausstattung der Kliniken und der Entwicklung pflegerischer Bildung her. Umfassend stellt Duveneck den Diskurs zum Begriff der Normalität dar und erklärt die Modelle von Canguilhem (»Normalitätspluralismus und damit verbundene Toleranzansprüche«), Foucault sowie Jürgen Links »Normalität als diskursive Strategie«. Dabei wird gezeigt, dass psychiatrische Pflege von der Dualität normal/anormal analog zur Dualität gesund/krank durchdrunge ist. In den wissenschaftlichen Diskurs der Identitätskonzepte wird ein guter Einblick geboten. Während ihrer Forschungstätigkeit wandelte sich Duvenecks theoretisches Verständnis, und sie überarbeitete ihre Forschungsfrage, die Analysemethode und die theoretischen Grundlagen ihrer Arbeit, grob gesagt: reflexive Biografieforschung statt Narrationsanalyse. Die Entwicklungsschritte der Forscherin sind detailliert nachzulesen und spannend zu verfolgen.

Das Untersuchungsergebnis, das heißt das Modell narrativer Identität psychiatrisch Pflegender, wird im neunten Kapitel dokumentiert, wobei die Antworten auf die klassische Identitätsfrage »Wer bin ich?« losgelöst von den interviewten Personen dargestellt werden. Es wird deutlich, wie Normalitäten als flexibles Konzept in der Erzählung der eigenen Geschichte in Bewegung sind: Normalitäten definieren Identität, werden nach persönlichen Blickwinkeln angepasst und dienen zur Abgrenzung zu Personen im privaten Umfeld, anderen Berufsgruppen oder auch zu den Klienten und Klientinnen. Interessant ist beispielsweise, wie sich männliche Pflegekräfte im eher weiblich geprägten Beruf sehen und wie sie auf dieser Grundlage Situationen als ausgrenzend wahrnehmen.

Für die sechs interviewten Pflegefachpersonen dient der institutionalisierte Lebenslauf als Ordnungsmuster des Normalen. Sie orientieren ihre Erzählung daran und definieren vor diesem Hintergrund Abweichungen von Normalität: z.B. eine unstete Zeit des Ausprobierens und Reisens nach der Schulzeit oder die Wahl eines anderen Weges als den von den Eltern erwünschten, nämlich die Realschule zu besuchen und eine Ausbildung zu machen anstatt wie vorgesehen nach der Hauptschule einen Haushalt als Ehefrau und Mutter zu führen. Eine Person hat für sich herausgefunden, dass Faulheit sie vor eigener psychischer Erkrankung schützt.

Der Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen und das Herstellen von Normalität werden als Aufgaben der psychiatrischen Pflege vorgestellt. Zudem werden Nähe und Distanz zu Klienten und Klientinnen als Bezugsperson und als Haltgeber sowie das damit verbundene Rollenverständnis im Team thematisiert. Eine Person berichtet beispielsweise davon, wie sie abweichend von der Normalität gemeinsam mit einer Verwaltungskraft eine Unterschrift fälschte, um das Problem einer fehlenden Heirats- und Geburtsurkunde von Klientin und Kind zu lösen und die beiden so auf nichtlegalem, aber kreativem Weg zusammenzubringen. Dieses Beispiel zeigt laut Duveneck besonders gut, wie die Darstellung narrativer Identität als Normalitäten in Bewegung auf die Konstruktion von Normalität hinzielt.

Die zu den Beispielen hergestellten theoretischen Bezüge sind sehr schlüssig, die die Kapitel einleitenden Übersichtstexte hilfreich und die für den theoretischen Teil angemessene Sprache teilweise nicht einfach zu durchdringen.

Besonders für psychiatrische Pflegefachpersonen gibt es in den Interviews individuell viel zu entdecken und Parallelen zur eigenen Geschichte herzustellen. Insofern bietet das Buch auch Raum zur Konfrontation mit der eigenen narrativen Identität. Normalitäten und deren gesellschaftliche sowie individuelle Erklärungsversuche bleiben sichtbar in Bewegung und werden sich weiter wandeln. Allen Personen, die sich mit der eigenen Geschichte bzw. mit eigenen beruflichen Erfahrungen in der Psychiatrie konfrontieren möchten, ist dieses Buch sehr zu empfehlen.

Patrick Nieswand in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 01.11.2024