Es fällt vielen psychiatrisch Pflegenden schwer nachzuvollziehen, was einen suchtmittelabhängigen Menschen bewegt und wie sie den Weg aus dem eigenen Schlamassel finden. Esther Indermaurs Buch "Recoveryorientierte Pflege bei Suchterkrankungen" ist nun eine Hilfe wie eine Landkarte in der Zeit, als Menschen noch ohne Navigationsgeräte reisten. Der Reisende hat sich beim Schauen auf die Reiseroute gemächlich auf die Wege eingelassen, die er zum Ziel gehen oder fahren musste. So hat jeder seine innere Haltung zum Reiseland schon finden können.
Indermaur öffnet dem Leser Perspektiven für die Begleitung von Menschen, die am Konsum von Suchtmitteln leiden. Es ist wie ein Handbuch zur Entwicklung einer eigenen Haltung gegenüber abhängigen Menschen zu lesen. Die Behandlung von abhängigen Menschen gelte als schwierig, schreibt sie. Dementsprechend hoch liege die emotionale Hemmschwelle bei professionell Helfenden (S. 11). Nach der Lektüre hat sich die Hemmschwelle möglicherweise nicht gesenkt. Doch Indermaur gelingt es, das Verständnis zu erweitern.
Dies wird entscheidend am Einbezug des Recovery-Ansatzes liegen. Nach Indermaur hat jeder die Möglichkeit, "von seiner psychischen Erkrankung zu genesen" (S.33). Genesung sei nicht unbedingt mit Heilung gleichzusetzen, sondern es geht darum, ein zufriedeneres Leben führen und an Lebensqualität zu gewinnen. Was Recovery für den Einzelnen bedeute, entscheide der Betroffene frei für sich und wählten im Moment stimmige Ziele. Ob dies mit den Anliegen des sozialen Umfelds im Einklang liegt, mag in der individuellen Einschätzung liegen. Überzeugend erscheint, dass Indermaur die Angehörigen als Ressource einbeziehen will.
Die psychische Dynamik des Prozesses zwischen Angehörigen und Suchtabhängigen beschreibt sie treffend: "Ein Großteil von ihnen leidet mit der betroffenen Person, gleichzeitig schwindet aber auch das Vertrauen, und sie verspüren immer weniger Zuneigung zu ihr. Daraus resultieren nicht selten starke Schuldgefühle." (S.147) Indermaur arbeitet sich konsequent und kenntnisreich am Thema ab. Sie legt großen Wert darauf, den Pflegeprozess bei suchtmittelabhängigen Menschen abzubilden. Sie stärkt auffällig die psychiatrisch Pflegenden, wenn sie verschiedene pflegerische Gruppenangebote vorstellt.
Sie orientiert sch stark am Gezeitenmodell von Barker und Buchanan-Barker, mit dem das soziale Lernen der Menschen in den Blick gerückt wird. Schon die Terminologie des Gezeitenmodells zeigt, dass um die Betonung des Positiven geht. Skillstraining und Genussgruppe, Achtsamkeitstraining und Milieutherapie sind Stichworte, mit denen Indermaur das Selbstverständnis und die Selbstwerdung von psychiatrischen Pflegenden in der Begleitung von abhängigkeitserkrankten Menschen voranbringen will.
Dies ist mit dem Einsatz von Peers wohl auch zu erreichen. Den Eindruck vermittelt Indermaur. Konkret: "In der eigenen Arbeit hat sich der Austausch mit Betroffenenvertretern als sehr fruchtbar erwiesen – einerseits als Quelle der Zuversicht für Betroffene, andererseits als Möglichkeit, Haltungen und Handlungen im Team zu reflektieren. Die Erweiterung des Behandlungsteams um einen Menschen mit gelebter Erfahrung bringt neue Perspektiven mit sich. Die eigenen Normen und Werte können so weiter entwickelt werden." (S.131)
So lohnt es sich, sich mit Indermaur auf die Reise zu machen. Die Spurensuche bringt eine Horizonterweiterung – auf jeden Fall.
Christoph Müller für www.forensik.de
Letzte Aktualisierung: 12.04.2024