Die gerontopsychiatrisch veränderten Menschen sind selten im Fokus fachlicher Diskurse. Dies bildet sich auch in den Regalen der Buchhandlungen ab. Umso wichtiger erscheint es, dass sich die Mediziner Stefan Klöppel und Egemen Savaskan auf den Weg gemacht haben, die »Psychosen im Alter« in den Fokus zu nehmen. Dabei öffnen sie einen weiten Blick, der sicher auch als State of the Art beschrieben werden kann.
Die primären und die sekundären Psychosen haben die Autor:innen in gleicher Weise im Blick wie die organischen Psychosen. Die Psychotherapie und die psychosozialen Interventionen bei Psychosen im Alter nehmen sie unter die Lupe. Auch zur Pharmakotherapie und interventionellen Verfahren (Elektrokonvulsionstherapie und repetitive transkranielle Magnetstimulation) sagen die Autor:innen Grundsätzliches.
Das Positive des Buchs ist, dass die Psychosen im Alter nicht auf der biologischen Ebene abgehandelt werden. Die Autor:innen tun vieles, um beispielsweise die Wichtigkeit von Psychotherapie bei betagten Menschen zu betonen. Nach Ansicht der Psychologin Livia Bohli und der Ärztin Katrin Rauen »stehen die Aktivierung der Selbstwirksamkeit, die Aufrechterhaltung der Selbständigkeit in den Alltagsfunktionen sowie der Aufbau der sozialen Fertigkeiten« (S. 81) im Vordergrund der Psychotherapie im Alter. Nicht zuletzt wegen der Skepsis gegenüber Psychotherapie bei Psychosen und im höheren Lebensalter in Fachkreisen lässt die Positionierung aufhorchen. Sie begrenzen sich nicht auf eine appellative Aussage, sondern betonen die wissenschaftliche Evidenz.
Die Rolle der Angehörigen gerontopsychiatrisch veränderter Menschen betonen Bohli und Rauen, wenn sie schreiben: »Bei psychoedukativen Familieninterventionen werden die Angehörigen der Betroffenen in die Behandlung miteinbezogen […] Weitere mögliche Ziele sind die emotionale Entlastung aller beteiligten Personen, eine stärkere gegenseitige Unterstützung, die Vermittlung praktischer Umgangsregelungen und eine höhere Medikamentenadhärenz. Zudem werden auch Coping-Strategien und Rückfall- bzw. Krisenpläne besprochen.« (S. 98)
Die Autor:innen-Gemeinschaft kann gut und gerne als multidisziplinäres Team bezeichnet werden. Praktizierende aus Medizin, Psychologie und Pflege konkretisieren die entscheidenden Fakten und Evidenzen zu Psychosen im Alter. Therese Hirsbrunner und Kollegen nehmen die Personen-Zentrierung und die Recovery-Orientierung unter die Lupe. Die persönliche Recovery sei geprägt von der Sichtweise, »dass Menschen an ihrer eigenen Genesung teilhaben und diese lenken« (S. 109). Der Fokus verschiebe sich vom Krankheitsgeschehen hin zur Orientierung an den gesunden Anteilen, »zu einem Leben mit Symptomen in guter Lebensqualität und zur Übernahme von Verantwortung für den eigenen Genesungsweg« (S. 109).
Gerade im Zusammenhang mit der Begleitung älterer Menschen mit Psychosen haben die Impulse der Autor:innen ermutigenden Charakter. Während viele psychiatrisch Tätige dazu neigen, den Betagten unter die Arme zu greifen, wenn es nur geht, schlagen die Autor:innen einen anderen Weg ein. Die Elektrokrampftherapie beschreiben die Autor:innen als »eine hochwirksame Therapie, die nicht kritiklos, aber auch nicht nur als letzte Therapieoption, sondern evidenzbasiert eingesetzt werden sollte« (S. 231). Dies klingt nach einem vernünftigen Kompromiss und Realitätssinn. Bei der Lektüre des Buchs wirkt es als Wermutstropfen. Nichtsdestotrotz verspricht das Buch »Psychosen im Alter« eine fachlich versierte Lektüre.
Christoph Müller in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 12.04.2024