Vielerorts heißt es, dass die Beziehungsarbeit in der psychiatrischen Begleitung ein Schlüssel zur Genesung sei. Allerdings bleiben die meisten Menschen, die dies behaupten, einen Nachweis schuldig. Unter anderem steht immer wieder die Frage im Raum, wie Beziehung denn messbar sei. Der Pflegewissenschaftler Ingo Tschinke und die Genesungsbegleiterin Melanie Rogner liefern nun einen nachvollziehbaren Beweis dafür, dass eine gute Beziehung zwischen einem unterstützungsbedürftigen und einem hilfebereiten Mensch Wege zur Genesung ebnet, auch wenn bei ihnen Messbarkeit nicht im Zentrum steht. Sie haben ein beeindruckendes Buch geschrieben, das mit dem Titel »Recoveryorientierte Praxis in der psychiatrischen Pflege« auf sich aufmerksam macht. Der Titel des Buchs klingt nüchtern, die Inhalte sind abwechslungsreich und lebendig.
Was macht den inhaltlichen Profit aus? Was Rogner und Tschinke beschreiben, erinnert an eine Reisebeschreibung. Sie blicken auf seelische Krisen der krisenerfahrenen Autorin zurück, verschweigen zugleich keine Missverständnisse, die der vermeintliche psychiatrische Profi auf den vielen Wegen der pflegerischen Begleitung während psychischer Erschütterungen mit sich getragen hat.
Das Buch ist alles andere als ein Dokument der individuellen Selbstdarstellung, vielmehr zeigt es ein geduldiges und um Empathie bemühtes Miteinander. Dabei versucht sich das Autorengespann in einem ständigen Wechsel der Perspektiven. Jedes Kapitel ist so gestaltet, dass die Sichtweise von drei Betroffenen als Ausgangspunkt des gemeinsamen Diskurses gewählt wird. Im Anschluss bringt sich Tschinke mit der pflegerischen Perspektive ein. Den Schlusspunkt setzt dann in fast allen Kapiteln der Psychiater Uwe Gonther aus ärztlich-psychotherapeutischer Perspektive. Die Beiträge überzeugen durch große Offenheit bei der Darstellung der eigenen Lebenswege. Dies bedeutet natürlich einen großen Vertrauensvorschuss, den die krisenerfahrenen Menschen nicht nur Tschinke und Gonther entgegenbringen. Letztendlich profitieren die Leserinnen und Leser in gleicher Weise davon.
Tschinke betont in seinen einführenden Worten die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der Haltung psychiatrisch Tätiger, wenn sie die Recovery-Idee im persönlichen Handlungsfeld umsetzen wollen. Er selbst drückt im Buch seine Ernüchterung darüber aus, dass auch er selbst in der Vergangenheit Menschen in der ambulanten psychiatrischen Versorgung hospitalisierte anstatt sie auf ihrem Weg zu mehr Selbstverantwortung, der Rückgewinnung von Sinnfindung und der Verbesserung der Lebensqualität zu unterstützen.
Nach Kenntnis des Rezensenten ist das Buch bisher einzigartig in seiner Art, wie es Recovery greifbar macht und fernab jeder Geschwätzigkeit zu lesen ist. Psychiatrisch Tätige müssen sich darauf einlassen – wie sie sich auch auf die Arbeit mit seelisch erkrankten Menschen einlassen müssen. Wenn das Autorenteam das erste Kapitel »Recovery – ein Wort, drei Bedeutungen und fünf Auslegungen« nennt, dann zeigt dies, dass es hier nicht darum geht, eine bestimmte Wahrheit zu verkünden. Die Biografie-Arbeit wird als ein »Verstehen im Kontext« interpretiert. Und auffällig ist, dass Tschinke und die krisenerfahrenen Autorinnen die »Verantwortungsübernahme im Recovery-Prozess« unterstreichen. Ein Zitat spricht nicht nur für sich, sondern steht auch beispielhaft für das ganze Buch: »Verantwortung zu übernehmen, heißt auch eine Wahlmöglichkeit zu haben und scheitern zu dürfen. Verantwortung zu übernehmen, heißt auch für die Psychiatrietätigen Verantwortung abzugeben …« (S. 148)
Christoph Müller in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 01.11.2024