»Zwischen den Stühlen«
Wie gelingt der Einstieg in die praktische Tätigkeit nach Abschluss des EXINCurriculums? Und was erfahren Genesungsbegleiter und begleiterinnen dabei über sich und über die Psychiatrie? Als Psychologe habe ich selbst einige Peers als Kolleginnen und Kollegen erlebt, und auch als EXINTrainer interessiert mich dieses Buch sehr: In den Erzählungen von zwanzig Peers erfahren wir von den je individuellen Wegen, vom Suchen und Finden in Arbeit. »Von Begeisterung bis zur kritischen Reflexion« (Jörg Utschakowski in seinem Geleitwort) reicht dabei der Bogen. Das Buch richtet sich nicht allein an werdende Peers, sondern auch an die Profis in den psychiatrischen Einrichtungen. Schnell wird klar, dass die Einstellung von und die Zusammenarbeit mit Peers einen gegenseitigen Anpassungs und Kennlernprozess fordert. Herausgeberin Susanne Ackers und Herausgeber Klaus Nuißl schreiben in ihrer Einführung: »Diese Berichte dienen potenziellen Arbeitgebern als Ideenpool, wie die Zusammenarbeit mit Erfahrungsexpertinnen und experten aussehen könnte.«
Sortiert sind die Beiträge nach den Bereichen, in denen die Autorinnen und Autoren tätig sind: In der Klinik, in Begleitung, Beratung, Alltagsbewältigung und sonstigen Einsatzgebieten. Im Fokus stehen die Rollenfindung und vielfältige Beobachtungen, die die Autorinnen und Autoren während ihres Wiedereinstiegs machen konnten. Die vorhergehende Krise bzw. Erkrankung findet nur am Rande Erwähnung, und doch wird deutlich, dass der Wiedereinstieg in den Beruf nach Jahren der Erwerbslosigkeit für viele herausfordernd ist (siehe z. B. den Beitrag von Karolina De Valerio). Dies macht die Lektüre ermutigend, auch bzw. gerade, wenn einige manchmal nach ersten Erfolgen sich wieder etwas in ihren Ansprüchen an sich zurücknehmen müssen. Zugleich erzählen die Autorinnen und Autoren davon, wie sie sich weiterentwickeln und neue Wege gehen. Werden sie jetzt alle so wie die Profis – so perfekt und routiniert? Mitnichten. Svenja Bunt schreibt: »Mir wurde rückgemeldet, ich sei nicht einfach zu ersetzen, ich würde etwas Unverwechselbares beitragen.«
Einige Beispiele: Beeindruckend, wie Hakan A. seine Rolle als Genesungsbegleiter auf einer psychiatrischen Station findet und wie er Kontakt zu den Patienten aufbaut. Annika Frisch (»Meine Rolle im ›Dazwischen‹«) beschreibt differenziert, wie sie gemeinsam mit den Kollegen ihr Stellenprofil entwickelt und sich ihr Besonderssein bewahrt. Mir wurde beim Lesen deutlich, dass es nicht immer festgezurrte Standards für die Entwicklung der Zusammenarbeit von Peers und Profis geben kann: So arbeiten Klaus Nuißl, Peter Sühwold und Jens Pusitzky dort, wo sie selbst früher Patient, Nutzer bzw. Klient waren – eine Konstellation, vor der oft nicht zu Unrecht gewarnt wird. Aber es kann klappen! Klaus Nuißl warnt mit viel Humor vor zu hohen Erwartungen an Genesungsbegleiter (»Aber Gedanken lesen kann ich noch immer nicht. Vielleicht auch besser so.«). Gut gefallen hat mir auch der Beitrag von Oliver Kustner, der trotz positiver Arbeitserfahrungen auch ein »Aber« formuliert und vom »Dilemma, von Beruf Kranker zu sein« spricht. Peter Sühwold denkt darüber nach, ob und welche Informationen von Klienten eigentlich wirklich wichtig sind. In den Beiträgen sind viele anschauliche Beispiele von Begegnungen mit Klienten zu lesen. Sehr interessant sind dann am Schluss des Buches die Beiträge zur Arbeit in den »sonstigen Einsatzgebieten«, von JanFrederik Wiemann in der betrieblichen Gesundheitsförderung, von Karin Aumann als Dozentin und dann Geschäftsführerin von EXIN Niedersachsen und von Jenny Ziegenhagen in der Forschung.
Zu Nachdenklichkeit regt mal wieder Gwen Schulz an. Ihre Beobachtung ist, dass Profis eigene Schwächen und Instabilitäten unterdrücken. Und dass sie das Kranksein an die Genesungsbegleiter delegieren. »Könnte ein Bekennen zu eigener Brüchigkeit – selbst wenn das nur im Stillen entsteht, aber Teil einer Grundhaltung in der Begegnung mit Betroffenen wird – zu mehr Mitmenschlichkeit und Solidarität zwischen Betroffenen und psychiatrisch Tätigen führen?« Helene Brändli aus der Schweiz wäre neugierig zu erfahren, ob »auch Fachpersonen viele schwierige, verletzende und ermüdende Erfahrungen mit Patientinnen und Patienten gemacht haben, die prägen und vielleicht (ver)hindern, dass der Unterschied zwischen Patient und Genesungsbegleiterin im vollen Umfang gesehen werden kann«
.Ich möchte daran erinnern, dass es auch Peers gibt bzw. gab, deren Einbeziehung in Einrichtungen nicht gelang, aus welchen Gründen auch immer – solche Erfahrungen, aus denen wir auch lernen könnten, fehlen leider. Gleichzeitig stößt dieses Buch, das nicht nur einseitig das Hohelied auf die Genesungsbegleitung singt, sondern auch Zwischentöne aufnimmt, an, wie wir Profis uns durch die Zusammenarbeit mit Peers über die Jahre verändern – vielleicht ein Anstoß zur nächsten Buchveröffentlichung.
Torsten Flögel in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 12.04.2024