Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Praxisleitlinien Rehabilitation für Menschen mit psychischen Störungen

Leitlinien zu lesen ist nicht gerade ein literarisches Vergnügen, sie dann noch für eine kritische Psychiatriezeitschrift zu besprechen, fällt doppelt schwer. Aber die Lektüre hat sich trotzdem gelohnt, denn diese Leitlinien geben erstmals einen Überblick über verbindliche Standards in der medizinischen und beruflichen Rehabilitation psychisch Kranker und könnten eine Diskussionsgrundlage für die Etablierung vergleichbare Qualitätsstandards in der deutschsprachigen Rehabilitationspraxis bilden.

Intensiver Diskussionsprozess

Die 2010 im Psychiatrie Verlag erschienen Leitlinien sind auf Initiative der Bundesarbeitsgemeinschaft Rehabilitation für psychisch Kranke (BAG RPK) in den letzten Jahren in einem intensiven Diskussionsprozess zwischen den Herausgebern, den Autoren und Experten aus dem deutschsprachigen Ausland auch in sogenannten Delphi-Runden entwickelt und in einem Workshop mit den Mitgliedern der BAG RPK diskutiert worden. Entstanden ist somit ein vorläufiger Expertenkonsens, der nach den methodischen Anforderungen der Stufe S1 der AWMF & ÄZQ entspricht. Und dies ist erst einmal nicht wenig für die eher autistischen Akteure in der bundesdeutschen Psychiatrielandschaft.

Die Praxisleitlinien sind gegliedert in drei größere Kapitel, denen ein allgemeiner Teil über Grundsätze und Begriffsdefinitionen aus dem Rehabilitationsbereich voran gestellt ist, der dann zu dem Kapitel 1 mit den rehabilitationswissenschaftlichen Grundlagenüberleitet. Hier werden ausführlich die konsentierten Ziele, Konzepte und Strategien der Rehabilitation von Menschen mit psychischen Störungen dargestellt. Dies erfolgt auf der Grundlage des funktionalen Gesundheitsbegriffes der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der WHO (ICF) mit ihrem ganzheitlichen biopsychosozialen Funktions- und Interventionsverständnis.

Personen- und kontextbezogene Ansatz

Entsprechend diesem grundlegenden Konsens ist den Praxisleitlinien zu entnehmen, dass eine zeitgemäß verstandene Rehabilitation weniger symptomorientiert sein sollte, sondern vielmehr abzielt "... auf die Verbesserung oder Stabilisierung funktioneller Einschränkungen und Aktivitäten sowie Förderung gesellschaftlicher Teilhabe in den Lebensbereichen, die von der betreffenden Person angestrebt werden". Dieser konsequent personen- und kontextbezogene Ansatz wird nun aus eigener Erfahrung nicht immer von den Kostenträgern umfassend mitgetragen, da hier doch häufig die Vermittlungsquote auf dem sogenannten ersten Arbeitsmarkt als Zielkriterium gesetzt wird. Rehabilitation und Teilhabe gehen heutzutage aber weiter als bis zu den Mauern der Fabriken und Werkstätten.

Wie nun der personen- und kontextbezogene Ansatz in den Rehabilitationseinrichtungen konkret umgesetzt werden kann, wird in den Kapiteln 2 (Rehabilitationsdiagnostik und -planung) und 3 (Rehabilitationsprozess, Verfahren und Interventionen) sehr ausführlich und umfassend ausgeführt. Ausgehend von dem Grundprinzip der Multimodalität in der Rehabilitationsdiagnostik werden verschiedene Diagnostikverfahren vorgestellt. Die Autoren verstehen dabei unter der Rehabilitationsdiagnostik in Abgrenzung zur Diagnostik in der Akutbehandlung die Feststellung von Beeinträchtigungen als Folgen der psychischen Erkrankung. Diese Statusdiagnostik dient als Ausgangspunkt der Rehabilitationsplanung und sollte auch zur Prozess- und Ergebnisevaluation nutzbar sein.

Da besonders auch die individuelle Handlungskompetenz gefördert werden soll, wird auf die handlungs- und arbeitsorientierte Diagnostik und den dazugehörigen Verfahren noch einmal gesondert eingegangen. Im Zeitalter der Zertifizierungen darf natürlich auch das Bekenntnis zum umfassenden Qualitätsmanagement nicht fehlen, das wohltuend praxis- und prozessorientiert ausfällt.

Phasen des Rehabilitationsprozesses

Im Kapitel 3 werden anfangs noch einmal die Phasen des Rehabilitationsprozesses dargestellt: Einstiegs- und Abklärungsphase, die Trainingsphase und die abschließende Verselbstständigungs- und Integrationsphase. Dem schließt sich ein umfassender Überblick über mögliche Interventionsmaßnahmen und -verfahren an, von der fachärztlichen Behandlung über die Psychoedukation bis zum Case-Management und der Einbindung in das soziale System.

Abgerundet wird die Publikation der Praxisleitlinien durch eine Kurzfassung für Überblicks- und Schnellleser, die aber so allgemein gehalten ist, dass sie sich eher als Einstiegslektüre bzw. Leitfaden durch die einzelnen, manchmal etwas unübersichtlichen gestalteten Kapitel eignet.

Erst platzieren – dann trainieren

Hervorheben möchte ich aber zum Abschluss neben dem systematischen Bezug auf den funktionalen Gesundheitsbegriff und dem Subjektbezug der Leitlinien, den für die Rehabilitanten hoffnungsvollsten Praxisansatz des "Supported Employment: Erst platzieren – dann trainieren (First place – then train)" der an mehreren Stellen der Leitlinie dargestellt wird. Dies ist für mich, auch aus der eigenen Erfahrung mit dem Arbeitsmarkt vor Ort, der hoffnungsvollste Ansatz für eine erfolgreiche Integration (besser noch bei fortbestehender Inklusion) in das Arbeitsleben für Menschen mit einer psychischen Erkrankung. Dies ist nicht zuletzt auch dem Projektbericht der Aktion Psychisch Kranke e. V. über "Individuelle Wege ins Arbeitsleben" (2004) zu entnehmen.

Trotz aller Probleme auf dem sich rasant wandelndem Arbeitsmarkt hat er immer noch ein differenzierteres individuelleres Arbeitsplatzangebot zu bieten als der besondere, geschützte Arbeitsmarkt, wo es auch hier ja in letzter Zeit interessante Flexibilisierungsansätze gibt. Es wird spannend bleiben, inwieweit in den zunehmenden Individualisierungsprozessen von Psychiatrie und Gesellschaft eine nachhaltige Rehabilitation und im erweiterten Sinne auch Inklusion psychisch Kranker möglich sein wird.

Die Leitlinien bilden jedenfalls für die Akteure der Psychiatrielandschaft eine solide Diskussionsgrundlage. Es ist zu hoffen, dass sie zu weiteren Diskussionen anregen und nicht nur Alibifunktionen in den kommenden Zertifizierungsritualen bekommen. Ihnen ist ein kritischer Diskurs zu wünschen, doch dafür sollte man sie vorher unbedingt lesen!

Dyrk Zedlick in Sozialpsychiatrische Informationen

Letzte Aktualisierung: 12.04.2024