»Erwachsene mit depressiver Verstimmung oder leichter bis mittelschwerer Depression, die bei der Deutschen Angestellten Krankenkasse (DAK) versichert sind, erhalten seit Juli 2016 kostenlosen Zugang zum internetbasierten Therapieprogramm deprexis®24.« (Der Nervenarzt 87, H. 8, 2016)
Thomas Berger nennt deprexis ein »mehrfach evaluiertes, von einer privaten Unternehmung (GAIA AG, Hamburg) entwickeltes Online- Selbsthilfeprogramm für Patienten mit Depression bzw. depressiver Verstimmung«. Man fragt sich: Was gilt nun? Selbsthilfe oder Therapie? Kann uns der Autor, Professor an der Universität Bern, aus der Verwirrung heraushelfen? Thomas Berger gilt aufgrund seiner Publikationen als Experte für Onlineanwendungen in der psychosozialen Versorgung.
Gleich das erste von sechs Kapiteln sorgt mit einer Taxonomie für Klarheit im verwirrenden Begriffsdschungel. Denn es werden vier Varianten unterschieden. Die Unterschiede ergeben sich aus der Intensität der Interaktion mit einem Therapeuten. Wird das Internet allein als Informationsmedium genutzt, sind es reine Selbsthilfeprogramme ohne therapeutische Begleitung. Virtuelle, anfangs gelegentlich reale Kontakte mit Therapeuten gibt es bei der »guided selfhelp «. Dabei dient das Internet nicht nur der Informierung, sondern auch der Kommunikation, z. B. über E-Mail-Kontakte mit Therapeuten. Bei der dritten Variante, der »echten« Onlinetherapie, kann entweder textbasiert kommuniziert werden über E-Mails bzw. in einem Chatroom oder audiovisuell in Echtzeit über Skype oder Video, was vergleichbar sei mit Face-to-Face-Therapien. Bei den »blended treatments« wird die herkömmliche Psychotherapie immer wieder durch Interventionen über das Internet ergänzt.
Diskutiert werden zudem im ersten Kapitel die ernst zu nehmenden Probleme der Vertraulichkeit der Daten, der Unsicherheit bei der Identität von Anbietern und Klienten sowie der Umgang mit Krisensituationen. Auf das gegenwärtig noch geltende Fernbehandlungsverbot wird hingewiesen, allerdings auch auf das Schlupfloch namens »Onlineberatung«.
Im zweiten Kapitel diskutiert Berger einige Theorien der computervermittelten Kommunikation. Neben der Kanalreduktionstheorie wird eingegangen auf die Theorie der sozialen Informationsverarbeitung als auch auf Theorien, die angesichts der fehlenden körperlichen Präsenz des Therapeuten auf die Möglichkeiten von Patienten-Projektionen abheben. Das dritte Kapitel widmet sich den Möglichkeiten, an Informationen über den Patienten zu kommen. Sie reichen von computergesteuerten Tests und Onlinefragebogen über Telefoninterviews bis hin zu Face-to-Face-Begegnungen. Im vierten Kapitel werden die Behandlungsmodi vorgestellt.
Der Leser lernt im Einzelnen sowohl die E-Mail-, Chat- und Videokonferenzsystemtherapien kennen als auch die geleiteten und die puren Selbsthilfeprogramme. Das fünfte Kapitel fasst den gegenwärtigen Stand der internationalen Wirksamkeitsforschung zu den einzelnen Störungsbildern (insbesondere Depressionen, Phobien und PTBS) zusammen.
Mittlerweile konnten viele Studien die Ebenbürtigkeit von internetbasierten und herkömmlichen Therapien belegen. Im letzten Kapitel wird ein Ausblick gewagt auf Chancen von Prävention, ärztlicher Grundversorgung, Psychotherapie als blended treatment und E-Mental- Health-Kliniken, wie es sie bereits in Australien und Schweden gibt. Diese Länder werden immer wieder bei der als verheißungsvoll bezeichneten Nutzung von Online-Interventionen genannt trotz wenig vergleichbarer Versorgungssituation. Dabei wird der gesundheitspolitische Missstand verschleiert, dass Kassensitze unter Mitwirkung der inzwischen Internettherapien bezahlenden Krankenkassen knapp gehalten werden. Darum werden Krankenkassen in diesem Buch Worte wie »kostengünstig « gerne lesen.
Da erscheint es nur konsequent, dass uns gleich auf der ersten Seite mit dem Hinweis auf die »Standardisierung psychotherapeutischer Methoden« die allgegenwärtigen Rationalisierungstendenzen im Gesundheitswesen begegnen. So kann man mit George Ritzer (2015) bei den internetbasierten Interventionen durchaus von einer »McDonaldisierung« der Psychotherapie sprechen. Dazu passt, dass wie in der Systemgastronomie mit ihrer Selbstbedienung, hier Selbsthilfe genannt, Hilfskräfte für »einen kurzen, ... relativ standardisierten Kontakt« eingesetzt werden, etwa »Psychologiestudenten oder Therapeuten in Ausbildung, die mit ... häufigen Fragen und möglichen Antworten vertraut waren«.
Angesichts im Buch vorgestellter therapeutischer Dialoge fühlt man sich an Joseph Weizenbaums Computerprogramm »Eliza« erinnert oder an einen noch früheren Vorläufer, an die Puppe Olimpia, den leblosen Automaten aus E. T. A. Hoffmanns »Der Sandmann«.
Wenn Thomas Berger von der Wirksamkeit internetbasierter Therapieangebote spricht, die in randomisiert kontrollierten Studien nachgewiesen wurde, hätte man gerne gewusst, auf welche Weise die Effekte gemessen wurden. Handelte es sich lediglich um Schätzurteile vonseiten der jeweiligen Therapeuten oder ihrer Patienten? Auch Informationen zu Alter, Geschlecht und Schulbildung der Studienteilnehmer wären aufschlussreich. Denn die Schnittmenge etwa von Patienten deutscher Fachkliniken und von Nutzern internetbasierter Interventionen ist nicht besonders groß.
Bei der Onlinenutzung überwiegt der Anteil junger Frauen mit hohen Bildungsabschlüssen. Andererseits haben weiterhin die älteren Jahrgänge, darunter insbesondere Frauen, wie auch sog. Bildungsferne mit höchstens Hauptschulabschluss, nicht zu reden von den sieben Millionen funktionalen Analphabeten in Deutschland, zu den internetbasierten Interventionen wenig Zugang. Das Schreiben mithilfe einer Tastatur, erst recht die differenzierte Verschriftlichung von Kognitionen und Gefühlen, sind letztlich Bestandteile der Angestelltenkultur.
Mit Blick auf die Gefährdung der Daten kann mittlerweile davon ausgegangen werden, dass es auch bei Internettherapien Big-Data-Auswertungsprogramme gibt, die z. B. für Krankenkassen oder potenzielle Arbeitgeber die Schritte des gläsernen Patienten festhalten. So verfolgen gegenwärtig zwei Tracker die Besucher der deprexis-Seiten.
Damit zeugt dies Buch von einem unbändigen, zugleich naiven Fortschrittsglauben. Doch bei aller Kritik haben wir es mit einer aktuellen, empirisch fundierten Übersicht über die Nutzung des Internets in der Psychotherapie zu tun. Daher ist es ein wichtiges Buch für alle in Beratung und Psychotherapie Tätigen – nicht nur, weil bei der Lektüre die Fallstricke einer Behandlung jenseits der persönlichen Begegnung von Patient und Psychotherapeut deutlich sichtbar werden.
Eine ausführliche Rezension des Autors zu diesem Buch finden Sie unter www.socialnet.de.
Ritzer, G. (2015): The McDonaldization of Society. 8th edition. Los Angeles, Sage Publications.
Siegfried Tasseit in Sozialpsychiatrische Informationen 1/2017
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024