„Alles beginnt mit der Sehnsucht.“ Diesen kurzen Satz von Nelly Sachs finde ich in einer Zitatensammlung zum Thema Gefühle am Ende des Handbuches meiner Kolleginnen Marie Boden und Doris Feldt, und er führt mich zum Anfang des Buches. Mir als Musiktherapeuten begegnet täglich die Sehnsucht nach Harmonie, und mir begegnet in der psychiatrischen Klinik täglich die Sehnsucht der Patienten und Patientinnen nach einem Angenommensein ohne Vorbedingungen, ohne Stigmatisierung, ohne Angst vor dem Alleingelassensein.
Wie schon das Handbuch „Krisen bewältigen, Stabilität erhalten, Veränderungen ermöglichen“ aus dem gleichen Verlag strahlt aber das zusammengestellte Material zur Arbeit mit Gruppen auch die Sehnsucht und Fähigkeit der Autorinnen aus, Menschen in seelischer Not immer ehrlich, respektvoll, ressourcenorientiert, sinnlich und mit einer guten Portion Lebensfreude zu begegnen. Es geht therapeutisch auf das Konzept der dialektisch-behavioralen Therapie zurück.
Gefühlen auf der Spur zu sein, sie zu erkennen, sie zu benennen, zu akzeptieren und sie kreativ zu verwandeln, wenn sie bedrohlich sind, sollte aber inzwischen allgemeiner Standard in der therapeutischen Arbeit sein. Ich weiß, dass es so nicht unbedingt ist, auch nicht in jeder Klinik, aber die professionelle Sehnsucht danach darf ja wohl möglich sein.
Die Autorinnen schauen auf jahrelange Erfahrungen mit einer so genannten Stabilisierungsgruppe für stationäre und ambulante Patienten zurück. Das Faszinierende beim Blick in ihre Materialsammlung für derartige Gruppen ist nicht nur die Fülle, sondern die Lebendigkeit und Kreativität, mit der immer wieder ganz konkret der Suche nach dem individuellen Umgang mit den eigenen Gefühlen Raum gegeben wird.
Selbstverständlich haben die Autorinnen nicht alles selbst erfunden, sie nutzen Ideen aus dem Bereich der Kreativtherapien, der Traumatherapie, der dialektisch-behavioralen Therapie nach Linehan und vor allem auch der schöngeistigen Literatur und Lyrik. Sie scheuen sich nicht, spirituelle bzw. religiöse Akzente zu berücksichtigen, und widmen sich zum Beispiel auch in der Klinik gern „vergessenen“ Themen, wie dem Verliebsein.
Schon nach dem Erscheinen der ersten Arbeitshilfen waren die Autorinnen gefragte Referentinnen auf Tagungen und Fortbildungen, und die Nachauflagen mussten schnell gedruckt werden. Das wird mit dem neuen Ergänzungsmodul sicher ähnlich werden. Es hat gegenüber dem ersten Band den Vorteil, dass das Buchformat handlicher ist. Wieder sind alle Arbeitsblätter und Arbeitsmaterialien auf einer CD beigelegt, von der aus man diese sehr schnell ausdrucken kann. Allerdings sind die Arbeitsblätter im Buch dadurch so klein abgebildet, dass man sie nur schemenhaft sieht.
Leser werden inhaltlich wieder zum Fokus „Krisen bewältigen, Stabilität erhalten, Veränderungen ermöglichen“ geführt, ihnen wird kurz die Zielsetzung für die Arbeit mit der Zielgruppe und dem Setting erklärt, in dem das Konzept erprobt wurde. Es gibt Hinweise auf Grundprinzipien des Vorgehens, d.h. auf Tempo und Flexibilität, Schreiben und Lesen, Haltung, Rituale, Spiritualität und Belohnung im Sinne von Anerkennung, Wertschätzung und Ausgleich. Und es wird sehr schnell spürbar, dass das eine oder andere Angebot innerhalb des Materials für die eigene Psychohygiene ganz nützlich sein kann und dass die Verwendungsmöglichkeiten überhaupt nicht auf Klinik oder gar Psychiatrie beschränkt sind.
Am Ende noch ein Zitat aus der Sammlung, das über jeder psychiatrischen Klinik stehen sollte: „Um das Herz und den Verstand eines anderen Menschen zu verstehen, schaue nicht darauf, was er erreicht hat, sondern wonach er sich sehnt“ (Khalil Gibran).
Martin Lenz in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024