Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Fixierung nachbesprechen!

„Ich kann mich nicht an alles erinnern … ich war so aufgebracht. Schon vorher, als meine Partnerin einfach nicht die Tür aufgemacht hat…ich war sicher, dass die mich da betrügt. Und anstatt mit mir zu reden, holt die die Polizei, die mich hierher gebracht hat… Schauen Sie sich doch mal um, hier gehöre ich doch wirklich nicht hin… und dann sagt diese Dienstärztin auch noch so zynisch, ich meine, das war echt bösartig, dass ich hier bleiben soll, das kann die doch nicht machen! Ich bin doch ein freier Mensch! Und dann kommen da diese Typen und schnallen mich ans Bett.“

Dies ist die Aussage von Herrn Peters, einem 28 jährigen Patienten, der, als seine Freundin sich von ihm bedroht fühlt und die Polizei ruft, von dieser in die geschlossene Psychiatrie gebracht wird. In seiner Not und dem Gefühl absoluter Bedrohung greift er dort einen Pfleger an, schlägt ihm einen Becher Wasser, den dieser dem Patienten reichen will, aus der Hand und beißt ihm in den Arm. Die Grenze ist erreicht. Der Alarm wird ausgelöst. Herr Peters wird fixiert. Warum es so wichtig ist, Situationen wie diese auf Augenhöhe nach zu besprechen, hat eine Neuerscheinung aus dem Psychiatrie-Verlag aufgearbeitet.

Dramatischer Alltag in der deutschen Psychiatrie

Fixierungen gehören – ob wir es wahrhaben wollen oder nicht – immer noch und immer wieder zum traurigen und dramatischen Alltag in der Psychiatrie. Traurig, weil beide „Parteien“ – Patient und professionelle Helfer – ihre eigentliche Rolle und Position verlassen: Der Patient, in größter Not und in dieser hilfsbedürftig und ohnmächtig, wird plötzlich zum Aggressor und wendet sich gegen die, die ihm beistehen und helfen wollen. Auf der anderen Seite die professionellen Helfer, die diesem Agress des Patienten nur mit einem begrenzenden Gegenagress zu begegnen wissen und damit ihre unterstützend helfende Position (scheinbar) verlassen müssen. Die traurige Lösung ist die Zwangsmaßnahme , die diesem plötzlich ausgebrochenen „Krieg“ ein Ende setzt. 

Aber was nun? Für den Moment ist die Beziehung zwischen Patient und Helfer zerstört. V.a. der Patient erlebt den Helfer als Feind, der ihm Gewalt angetan hat. Wie kann es nun gelingen, wieder in ein gutes Arbeitsbündnis zurückzufinden und was braucht es dafür? Drei Autoren, ihres Zeichens alle drei engagierte und erfahrene Psychiatriearbeiter (hier sei nun doch mal erwähnt, dass zwei von ihnen Frauen sind), haben sich dieser schwierigen Frage angenommen. Ihre Erfahrung hat sie gelehrt, dass „letztlich der Einsatz von Zwangsmaßnahmen bei akuter Selbst- und Fremdgefährdung nicht zu vermeiden ist“. Aber es ist möglich, ein Instrument zum Einsatz zu bringen, das – wie die Autoren auch nachweisen können  – den Schaden deutlich begrenzen kann und  – auf längere Sicht – zu weniger Zwang in der Psychiatrie führen könnte. Und dieses Instrument ist das, was den Kern der Psychiatrie (als der „sprechenden Medizin“) – zumindest von ihrem Wollen und ihrem Anspruch her – ausmacht: die Sprache. Es gilt also zu einem Sprechen zurückzufinden , das in der Situation der Zwangsmaßnahme nicht mehr zur Verfügung stand oder zumindest nicht mehr ausreichte, um die eskalierte Situation zu befrieden.

Es geht um das Aufheben des Macht/Ohnmachtverhältnisses

So nennen denn die drei Autoren ihr kürzlich erschienenes Buch schlicht: „Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen – Ein Praxisleitfaden”. Auf knapp 100 Seiten – die gut strukturiert und leicht geschrieben sind – werden die unterschiedlichen Aspekte von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie diskutiert. Es folgt die detaillierte Darstellung der „leitfadengestützten Nachbesprechung von Zwangsmaßnahmen“, die 2017 im Rahmen des sogenannten Weddinger Modells entwickelt wurde.  In dieser geht es v.a. um ein Wiederherstellen von Transparenz und Partizipation sowie um das Aufheben des Macht/Ohnmacht-verhältnisses,wie es sich in einer Zwangsmaßnahme in extremer Weise dem Patienten gegenüber realisiert.

Beide Seiten begegnen sich als gleichberechtigte Gegenüber

In der Nachbesprechung, die dem Patienten angeboten wird, begegnen sich beide Seiten als gleichberechtigte Gegenüber. Beide Seiten stellen die Situation aus ihrer jeweiligen Wahrnehmung und ihrem jeweiligen emotionalen Erleben dar. Es wird gefragt, ob und welche Alternativen (zur Zwangsmaßnehme) es hätte geben können. Was hätte dem Patienten gut getan? Ist im Nachhinein der Grund  für die Zwangsmaßnahme deutlich und nachvollziehbar geworden? Wenn all dies in einem geschützten und sicheren Rahmen und auf dem langsam wieder wachsenden Boden von Wertschätzung und Verständnis besprochen werden kann, ist die Chance groß, dass sich der Blick und die Wahrnehmung des Patienten auf das Geschehen deutlich verändert. Auch die retraumatisierende Wirkung von Zwangsmaßnahmen kann hierdurch deutlich gemildert werden, da der Patient verstehen kann, dass er nicht nur das ohnmächtige Opfer war, sondern durch seinen bedrohlichen Aggress auch zum Täter wurde.

Wenn man dieses Buch gelesen hat – und dies sollte jeder in der Psychiatrie arbeitende Mensch tun – wundert man sich nicht, dass die Ergebnisse mehrerer wissenschaftlichen Studien – insbesondere die im Rahmen des Projekts „Zwangsvermeidung im psychiatrischen Hilfesystem“ – die gute Wirksamkeit von Nachbesprechungen von Zwangsmaßnahmen eindeutig bestätigen.

Martina de Ridder in Eppendorfer

Letzte Aktualisierung: 17.04.2024