Wieso kommt eigentlich erst jetzt ein Buch zum Umgang mit Suizid in psychiatrischen Einrichtungen? Ist vorher niemand auf die Idee gekommen? Oder ist das Thema allzu tabuisiert? Als ich das Buch »Umgang mit Suizid in psychiatrischen Einrichtungen« gelesen habe, habe ich mir immer wieder diese Fragen gestellt. In der psychiatrischen Praxis habe ich immer wieder erlebt, dass sich erkrankte Menschen während oder recht kurz nach einem stationären Aufenthalt suizidiert haben. In den multiprofessionellen Teams hat es dann ganz unterschiedliche Bewältigungsmuster mit einem einschneidenden Ereignis dieser Art gegeben. Eine institutionelle Idee zur Bewältigung war selten – außer vielleicht der einen oder anderen Supervisionssitzung, in der der Suizid thematisiert wurde.
Das Buch von Menzel und Brieger kann nun als Anstoß genommen werden, sich auch innerhalb eines psychiatrischen Versorgungssystems vertiefte Gedanken zum Suizid zu machen. Vielleicht gelingt es dann auch, das eine oder andere Handlungskonzept zur Überwindung von Sprach- und Hilflosigkeit zu entwickeln.
Menzel und Brieger haben aus eigenen klinischen Erfahrungen heraus das Phänomen des Suizids in psychiatrischen Einrichtungen angeschaut. Dabei wird unter anderem deutlich, dass gerade für die Menschen, die einen Toten finden, das Auffinden ein besonderes Ereignis ist: »ein Maximum an Erschrecken, Belastung und Stress« (S. 46). Deshalb sei beispielsweise bei einer Suizidnachbesprechung der »wichtigste Effekt, den wir beobachtet haben« (S. 81), das Anhalten des Betriebs. Es müsse sich gemeinschaftlich Zeit genommen werden, »um auf den Suizid zu blicken, ihn zu reflektieren, die Bedarfe und Bedürfnisse zu klären, die auch die eigene Betroffenheit widerspiegeln« (S. 81).
Damit die psychiatrisch Tätigen den Um-gang mit Suizid in psychiatrischen Einrichtungen als Arbeitsauftrag annehmen, haben Menzel und Brieger das Buch knapp gehalten. Die gut 100 Seiten bieten eine erste Übersicht, die auf das jeweilige Versorgungssystem heruntergebrochen und ergänzt werden muss. So geben sie zu baulichen Gegebenheiten von Krankenhausstationen erste Hinweise, wie Suizid in den Mauern einer Klinik erschwert werden kann. Sie erwähnen aber z.B. nicht Aspekte heilender Umgebungen, die derzeit an Bedeutung gewinnen. Ebenso ist es bedauerlich, dass Haftungsfragen im Kontext eines Suizids in einer psychiatrischen Einrichtung nicht zügig zur Sprache kommen.
Als Menzel und Brieger zu den Suizidnachbesprechungen kommen, wird deutlich, dass »gut durchdachte Routinen entlasten« (S. 68). Eine professionelle Nüchternheit gehört dabei genauso zur Bewältigung wie die Sensibilität für subjektive Aspekte von Angehörigen und psychiatrisch Tätigen. Dies zeigt die berufliche Praxis schon lange und ist in diesem Buch endlich auch einmal aufgeschrieben worden.
Nachdenklich stimmt, dass Menzel und Brieger den Begriff der Fehlerkultur im Zusammenhang mit einem Suizid einführen. Schließlich stellt sich bei jedem Suizid die Frage nach dem Misslingen einer Behandlung oder Begleitung. Das zu frühe Diskutieren eines Fehlers birgt die Gefahr, psychiatrisch Tätige in ihrer Handlungsfähigkeit zu hemmen, denen grundsätzlich zu unterstellen ist, dass sie alles Erdenkliche getan haben, um Menschen zu einem Weg der Genesung zu bewegen. Es sollte überlegt werden, das Nachdenken über gemachte Fehler mit einem deutlichen Abstand zum Ereignis nochmals zu probieren.
Gut ist, dass Menzel und Brieger ein Buch zum Umgang mit dem Suizid in psychiatrischen Einrichtungen in den fachlichen Diskurs einbringen. Die Menschen in der Praxis müssen es jetzt als Impuls annehmen, um einem der schwierigsten Phänomene in ihrem beruflichen Alltag begegnen zu können.
Christoph Müller in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024