Der Psychiatrie Verlag bietet mit der »better care«-Reihe pflegerische Expertise zu psychiatrischen Phänomenen und hat 2014 mit dem Buch »Ambulante Psychiatrische Pflege« einen hervorragenden Auftakt vorgelegt. »Stimmenhören und Recovery« ist das mittlerweile sechste Fachbuch der Reihe, in dem die erfahrungsfokussierte Beratung in der therapeutischen Arbeit mit Stimmenhörern im Mittelpunkt steht. Die Autoren betonen, dass in diesem Fachbuch eine »einfache, wenig technische und normalisierende Sprache« verwendet wird, um ein »Zeichen für eine personenorientierte Haltung zu setzen«. Dies ist auch gelungen, neben einer im Allgemeinen klaren und verständlichen Sprache werden im Speziellen Ausdrücke wie »Recovery« und »Empowerment« elegant, einfühlsam und umgangssprachlich dargestellt.
Das Praxishandbuch soll und kann Professionelle und Betroffene, aber auch Angehörige im Alltag und in verschiedenen Versorgungssettings unterstützen. Nach einer theoretischen Einführung in die erfahrungsfokussierte Beratung wird der Begleitprozess, orientiert am Pflegeprozess, ausführlich dargestellt. In fünf Praxisbeispielen, ergänzt durch einen Ausblick auf das Stimmenhören bei Kindern und Jugendlichen, wird die erfahrungsfokussierte Beratung mit der zentralen Methode des Maastrichter Interviews veranschaulicht. Zur Unterstützung der Lesbarkeit bieten herausgehobene Kästen am Ende von Gedankengängen passgenaue Zusammenfassungen, ergänzt wird der Text durch zwei Download-Angebote.
Eine Grundannahme der Autoren ist, dass Stimmenhören an sich kein Krankheitssymptom sein muss, sondern eine normale Variation menschlicher Wahrnehmung sein kann, die im Lebenskontext verstehbar ist. Das darauf aufbauende Leitkonzept ist der persönliche Recovery-Prozess, wobei Recovery für die »Wiederverbindung mit dem Leben« steht. Was aber genau ist die erfahrungsfokussierte Beratung? Die Autoren stellen ausführlich die aufeinander aufbauenden Methoden des Maastrichter Interviews, des Maastrichter Berichts und des Maastrichter Konstrukts dar.
Mit diesen strukturierenden Hilfsmitteln und der damit verbundenen Gesprächsführung sowie der dem Stimmenhörer entgegengebrachten Haltung –z.B. die Betrachtung der Stimmenhörer als »Helden ihres Alltags« – wird oftmals eine immense Verringerung des Leidensdrucks und auch der Medikamentengabe erreicht. Die Stimmenhörer lernen, die Stimmen zu verstehen, in ihren Lebenskontext zu stellen und ihnen einen Sinn zu geben. Realistische Zielformulierungen dienen dabei als Basis der Zusammenarbeit. Dies wird sehr eindrücklich in den Praxisbeispielen dargestellt, in denen gezeigt wird, wie Personen, die als chronisch krank eingestuft wurden, einen bemerkenswerten Recovery-Weg zurücklegten.
Das Maastrichter Interview wird als ein Beispiel für die »Strategie Fokussieren« bezeichnet, in deren Rahmen die Stimmenhörer meistens zum ersten Mal die Erfahrung machen, über die Stimmen genauer nachzudenken und sich weniger von ihnen bestimmen zu lassen.
Die Argumentation der Autoren stützt sich auf bekannte Theorien und Grundannahmen (Marius Romme, Sandra Escher u.a.) und damit verbundene Hilfsmittel. Zentral ist es, sich bewusst von einer pathologisierenden Grundhaltung zu lösen sowie die Wechselwirkung der Stimmen mit dem Lebenskontext und dem Weltbild der Stimmenhörer wahrzunehmen. Die Betroffenen sind dabei stetig zu ermutigen, sich selbst als sinnhaftes Wesen zu erleben. Die pflegerische Perspektive bietet Hilfen für den alltäglichen Begleitprozess; in diesem ist das von den Autoren sogenannte »Bodenpersonal« stets präsent und somit besonders geeignet, die erfahrungsfokussierte Beratung anzubieten.
Die Autoren empfehlen als Hilfsmittel im Recovery-Prozess die DGSP-»Absetzbroschüre« des Fachausschusses Psychopharmaka und ziehen das Fazit, dass es bei der erfahrungsfokussierten Beratung vor allem darum gehe, »dass die stimmenhörende Person im Gleichgewicht mit den Stimmen ihr Leben leben kann und nicht von ihnen bestimmt wird.«
Patrick Nieswand in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024