Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Facetten- und faktenreich

Obwohl die Suizidraten in vielen Ländern sinken, haben Selbsttötungen weiterhin einen nicht unerheblichen Anteil an den unnatürlichen Todesarten. Die theoretischen wie praxisorientierten Erkenntnisse zu den Facetten des Themas Suizid nehmen stetig zu. Das Herausgeber- Team von »Suizidales Erleben und Verhalten« möchte »allgemeine Aspekte zur Klassifikation, Phänomenologie und Ätiologie suizidalen Erlebens und Verhaltens« beleuchten, aber auch den »Bereich der Prävention und der Intervention« darstellen. So viel sei verraten, das ist gelungen.

Bereits das erste Kapitel überrascht, geht es darin doch, anders als es die Kapitelüberschrift erahnen lässt, nicht ausschließlich um Definitionen und Klassifikationen. Vielmehr enthält dieses Kapitel detaillierte und sensibilisierende Hinweise auf den richtigen sprachlichen Umgang mit verschiedenen suizidalen Situationen. Gängige Formulierungen, wie »gescheiterter Suizidversuch«, werden auf stigmatisierende oder wertende Aspekte abgeklopft und sprachliche Alternativen vorgeschlagen. Die ebenfalls in diesem Kapitel zu findenden ausgesprochen differenzierten Definitionen und Klassifikationen verdeutlichen zudem die Komplexität der Begriffe »Suizidalität« und »Suizid«.

Während das folgende Kapitel einen weiter gefassten Überblick über die Epidemiologie suizidalen Erlebens und Verhaltens gibt, erläutern Hanne Scheerer, Michael Colla und Birgit Kleim die Häufigkeit und Risikofaktoren für Suizidalität bei verschiedenen psychischen Erkrankungen.

Das Kapitel zu den psychologischen Erklärungsmodellen suizidalen Erlebens und Verhaltens stellt u.a. die interpersonale Theorie, das integrative motivational-volitionale Modell oder die »Fluid vulnerability theorie« vor. Der Autor Thomas Forkmann beschränkt sich aber nicht darauf, sondern verknüpft die theoretischen Erkenntnisse mit Hinweisen zu deren Berücksichtigung in der therapeutischen Arbeit. Bemerkenswert ist auch die Information, dass zwei Arbeitsgruppen jeweils an der Definition einer neuen psychischen Störung arbeiten, von denen uns eine zukünftig womöglich im DSM bzw. ICD begegnen wird.

Etwas aus dem Rahmen fällt das Kapitel zu den genetischen und neurobiologischen Determinanten der Suizidalität. Leser, die nicht näher mit dem Thema Genetik befasst sind, werden wegen der vielen Termini und des unbekannten Terrains vermutlich schnell weiterblättern. Tatsächlich, so das Fazit, spielen die aktuellen Erkenntnisse aus der Genetik und Epigenetik in der klinischen Versorgung bisher keine Rolle.

Es folgt eine gute Übersicht mit der konkreten Darstellung von Instrumenten zur Risikoabschätzung. Dabei werden Fragebögen und Leitfäden zur Interviewgestaltung und neue Ansätze, wie die rechnergestützte Risikokalkulation, vorgestellt.

Die Beiträge zu verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren sowohl im Erwachsenen- als auch im Kindes- und Jugendalter und zu medikamentösen Behandlungsmöglichkeiten greifen die aktuelle evidenzbasierte Forschung auf. Ein besonderes Augenmerk legen die Autoren dabei auf die kritische Phase nach einer klinischen Behandlung. Die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zur spezifischen Psychotherapie suizidalen Erlebens und Verhaltens sind insbesondere in Bezug auf deren Langzeitwirkung unbefriedigend. Da es bei den Psychopharmaka lediglich für Lithium eine suizidprophylaktische Evidenz gibt, schließen die Autoren des Textes zur medikamentösen Behandlung ihr Kapitel mit der Erkenntnis, dass die »enge und vertrauensvolle therapeutische Beziehung« die »wichtigste antisuizidale Maßnahme ist«.

Neben der konkreten Behandlung der Suizidalität spielen für die Verhinderung von Suiziden unterschiedlichste präventive Maßnahmen eine Rolle. Auf solche Maßnahmen gehen die Beiträge im letzten Drittel des Buches ein. Diese reichen von der Beschränkung des Zugangs zu Suizidmitteln über die Betreuung von Suizidhinterbliebenen bis zu Präventionsprogrammen in der Schule. Auch in diesen Kapiteln beeindruckt die Fülle der zusammengetragenen Informationen. So wird zum Beispiel auf zwei asiatische Studien verwiesen, die nachwiesen, dass sich durch einen minimal erhöhten Aufwand beim Einkauf von Grillkohle (Erfordernis des expliziten Erfragens an der Kasse) die Suizidrate verringern ließ. Diese wurde in der Region häufig zur Selbstvergiftung mit Kohlenmonoxid verwendet.

Lena Spangenberg kommt in ihrem Beitrag zu neuen Technologien bei der Behandlung von Suizidalität zu einem ernüchternden Ergebnis. Bisher gibt es im Bereich der Apps und internetbasierten Anwendungen noch keine evidenzbasierten Instrumente für den deutschsprachigen Raum.

Mit einem positiven Fazit der Hausgebenden schließt dagegen das Buch, die Forschung hat Fahrt aufgenommen und es sei mit neuen Entwicklungen zu rechnen.

Mit diesem Handbuch zu suizidalem Erleben und Verhalten ist den Herausgebenden eine ausgezeichnete und umfassende thematische Zusammenstellung mit hohem Praxisbezug gelungen. Leserinnen, die sich einen Überblick verschaffen möchten, arbeiten sich durch das sehr gut lesbare Buch, andere schlagen vermutlich in einzelnen Kapiteln nach. Die Texte werden durch hilfreiche Tabellen und Abbildungen sowie weiterführende, meist englischsprachige, Literatur ergänzt.

Ilja Ruhl in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 17.04.2024