Das Non-Manual beginnt mit drei Geleitworten. Gwen Schulz, Michaela Amering und Friederike Schmidt-Hoffmann beeindrucken mich mit ihrer jeweils eigenen Perspektive auf das Thema, und mein Interesse für das Buch ist geweckt: Wie gelingt es, die Erfahrung einer Psychose in das eigene Leben zu integrieren? Wie können Gruppen für Psychoseerfahrene dabei helfen, zurück ins Leben zu finden?
Das Autorenteam hat eine solche Gruppe erstmalig 2011 ins Leben gerufen – mit dem Ziel, bei Menschen mit Psychoseerfahrungen in einem zeitlich begrenzten Gruppenformat Recoveryprozesse anzustoßen und zu fördern. In der Einleitung beschreiben mehrere Teilnehmende, wie sie die Arbeit im Projekt »Lebenswege« erlebt haben. Die Autoren laden dazu ein, Anregungen, Kommentare und Kritik per E-Mail zu äußern.
Der Aufbau des Buches ist gut durchdacht. Bevor die Hintergründe und Prinzipien erläutert werden, wird der Begriff »Recovery« kurz erklärt und die Entwicklung des Gruppenformates dargestellt. »Für die Erstellung des vorliegenden Konzeptes haben wir uns Zeit genommen. Zwischen den Gruppendurchläufen haben wir uns regelmäßig zusammengefunden, um einerseits das Besondere an unserem Gruppenformat und andererseits die theoretischen und konzeptionellen Anschlüsse an andere Formate herauszuarbeiten.«
Die Recovery- und Selbsthilfebewegung, Betroffenenkontrolle, Trialog, der offene Dialog, Psychoedukation, Psychosenpsychotherapie und Genesungsbegleitung bilden zusammen mit den Sozialwissenschaften den theoretischen Hintergrund des Gruppenformats. Diese allgemeinen Prinzipien werden erläutert und jeweils in den persönlichen bzw. beruflichen Kontext der Autoren gestellt. Das gefällt mir.
Vier nachfolgende Kapitel beschreiben den Rahmen und Techniken für den Erfahrungsaustausch, den Umgang mit herausfordernden Situationen und mögliche Sitzungsthemen. Am letzten Kapitel, das sich der Evaluation widmet, ist ein weiterer Autor, Julian Schwarz, beteiligt.
Der formale Rahmen ist relativ einfach. Es geht um einen wechselseitigen Austausch im Stuhlkreis mit 10 Sitzungen à 90 Minuten im 14-tägigen Rhythmus. Das moderierende Team sollte aus verschiedenen Berufsgruppen bestehen, ein Mitglied sollte unbedingt über Erfahrungsexpertise verfügen. Ablauf und Besonderheiten der ersten sowie der letzten drei Sitzungen werden erläutert. Im Vordergrund steht der wechselseitige Erfahrungsaustausch zwischen dem moderierenden Team und den Teilnehmenden. Die Moderierenden sollten kein unmittelbares Ziel verfolgen, sondern mit den Aussagen der Teilnehmenden »mitfloaten«.
Die Autoren, die bereits im Titel deutlich machen, dass sie kein standardisiertes Vorgehen liefern, stellen dann Techniken vor, die sich für sie als hilfreich erwiesen haben: »Ob eine Technik zu einer bestimmten Haltung oder einem bestimmten Gruppenklima führt, lässt sich nicht vorhersagen. Wenn bestimmte Techniken angewandt werden, erhöht dies aber die ›Wahrscheinlichkeit‹, dass sich eine bestimmte Haltung oder ein bestimmtes Milieu herstellt. Notwendig ist weiterhin die Reflexivität des moderierenden Teams.«
Als mögliche Sitzungsthemen werden folgende Themenkomplexe erläutert: der Begriff »Recovery«, in den Alltag zurückfinden, persönliche Erklärungsmodelle suchen, Psychose und Biografie, Umgang mit Stigma und anderen Personen, Menschenrechte und Psychosen sowie die Frage nach Behandlungsoptionen auch außerhalb der Psychiatrie.
Herausforderungen sowohl für die Teilnehmenden als auch für das Moderationsteam werden benannt. Es kann z.B. schwerfallen, diejenigen, die wenig oder gar nicht sprechen, nicht dazu aufzufordern und sich zurückzuhalten, keine Ratschläge und Lösungen anzubieten.
Last but not least hat mir die im letzten Kapitel ausführlich beschriebene Evaluation sehr gut gefallen. Hier werden im Rahmen eines eigenen gut begründeten Wirkfaktorenmodells die Thesen des Buches wissenschaftlich untermauert. Das Forschungsdesign kombiniert dabei mehrere methodische Ansätze: teilnehmende Beobachtung, halb strukturierte Interviews, Fokusgruppen und eine standardisierte Pilotbefragung. Die Begleitforschung umfasst auch ethnologische und sozialwissenschaftliche Ansätze.
Verständlich, gut formuliert und glaubwürdig vermitteln die Autorin und die Autoren, wie im Rahmen der Gruppen »Lebenswege«, Räume des Suchens entstehen, und sich Wege des Lernens in der mitmenschlichen Begegnung eröffnen. Ich gratuliere zu der gelungenen Mischung aus Theorie, Praxis und Forschung und empfehle dieses Buch für Studium, Lehre und als Unterstützung in der praktischen Arbeit. »Mich freut dieses Buch. Lesen Sie selbst!«, schreibt Gwen Schulz im Geleitwort. Dem kann ich mich nur anschließen.
Astrid Delcamp in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024