StäB, was als Kürzel für den etwas sperrigen Begriff »Stationsäquivalente Behandlung« steht, stellt zunächst einmal ein neues Element im Versorgungssystem der Psychiatrie dar. Als aufsuchende Akutbehandlung ist StäB eine spezielle Form des Home Treatments, wie es sich international schon seit einigen Jahren in Anwendung befindet. In Deutschland wurde StäB ab Januar 2018 im Rahmen des PsychVVG und nach Neufassung im Sozialgesetzbuch (SGB V, § 115d) möglich. Zur Drucklegung des Buches im Juni 2020 boten über zwanzig Kliniken in Deutschland StäB an.
Verlässt man diesen formalen Rahmen und schaut sich mit den hochkarätigen und im psychiatrischen Versorgungssystem erfahrenen Herausgebern Weinmann/Bechdolf/Greve und einundvierzig weiteren Autoren in 18 Kapiteln inhaltlich die Bedeutung dieser Neuerung an, so kann man sie meines Erachtens nach gar nicht hoch genug einschätzen. Es stimmt ja schließlich, was schon Anfang des Buches sehr offen gesagt wird: »Psychiatrie wurde im Kontext von Anstalten und Großkrankenhäusern entwickelt und ist deshalb wenig alltagstauglich« (S. 22). Home Treatment, hier in Form von StäB, stellt eine Möglichkeit dar, dies radikal zu ändern. Denn, so die Erkenntnis der Autoren: »Der Ort des Lebens ist meistens auch der beste Ort für die therapeutische Begegnung« (S. 29).
Patient und das multiprofessionelle Helferteam begegnen sich nun nicht mehr im durchstrukturierten und einengenden Rahmen der Klinik, sondern auf Augenhöhe in der Offenheit des jeweiligen Lebensfeldes. »Biologisches, Psychologisches, Soziologisches [und auch] Philosophisches reichen sich [hier] im auf die Lebenswelt bezogenen Alltag die Hand.« (S. 28) Angehörige und das gesamte Umfeld treten hinzu. Was dergestalt nun eine andere Psychiatrie ist: beziehungsorientiert, sozial verankert und aus dem biologischen Zwangskorsett befreit.
Ist der Patient davon angetan? Meist, aber nicht unbedingt! Aus Sicht einer Betroffenen sagt Elke Prestin (in Kap. 3) zunächst: »Nichts« halte sie davon. Um dann aber zu differenzieren, dass ihre Kritik der Ausrichtung psychiatrischer Hilfe aufs »Behandeln« gelte, wo es doch eigentlich um »gemeinsames Aushandeln, das Entdecken und Erproben von Wegen« (S. 77) geht. Weinmann & Co. stimmen dem an anderer Stelle völlig zu: Es gehe um »die Arbeit an einem neuen Narrativ, das die psychiatrische Krise als Ausgangspunkt einer Suche nach einem neuen Sinn und einer neuen Aufgabe im Leben versteht« (S. 31). Hier sprechen ganz offensichtlich nicht mehr biologisch und technisch ausgerichtete Psychiater, sondern »teilnehmende Beobachter« (S. 30) mit hoher Fachlichkeit, die das Ganze psychischer Erkrankungen im Blick haben.
Auch Angehörige kommen in diesem Vielperspektivenbuch zu Wort: Sie äußern neben Hoffnungen – vor allem die, dass StäB auch die im Elfenbeinturm der Klinik vernachlässigten »sekundären Krankheitsfolgen« (S. 80) mit in den Blick nimmt – ebenso ihre Befürchtungen: »Welches Bild haben die psychiatrisch Tätigen von Angehörigen«? Und wird es ihnen gelingen, »die Lebenswelt des Zuhauses respektvoll und behutsam zu betreten«? (S. 76).
Für alle Beteiligten ist StäB hochgradig gewöhnungsbedürftig. Seitens der psychiatrisch Tätigen erfordert es »eine andere Wahrnehmung seelischer Not und eine andere Beziehungskultur« (Th. Bock, S. 129). Hierzu gehört auch, die familiären und sozialen Ressourcen zu erkennen und mehr Verantwortung beim Klienten zu lassen. Alles in allem ein systemischer Ansatz mit psychotherapeutischer Grundhaltung!
StäB ist gänzlich neu, kann aber auf Vorerfahrungen aus anderen aufsuchenden, meist auf längerfristige Hilfe angelegten Modellprojekten (nach § 64 SGB V) zurückgreifen. Und natürlich versuchen StäB-Mitarbeiter mit schon bestehenden gemeindepsychiatrischen Hilfsangeboten eng zu kooperieren. Der zugehörige Netzwerkgedanke ist grundlegend.
Die bisherige Angebote ergänzende StäB hätte in Deutschland nicht implementiert werden können, wäre die Wirksamkeit aufsuchender Behandlungsformen nicht eindeutig nachgewiesen worden (s. Kap. 2). Wobei speziell für StäB eine Evaluierung mit der sogenannten AKtiV-Studie (s. Kap. 11) noch im Entstehen begriffen ist.
Die entsprechenden Organisationsstrukturen in Umsetzung der gesetzlichen Anforderungen aufzubauen, stellt nachvollziehbarerweise einen immensen Aufwand dar (s. Kap. 5 sowie den gesamten Teil 2 des Buches, der diverse regionale Umsetzungsbemühungen thematisiert). Zum Erscheinungszeitpunkt des Buches Ende 2020 kann man daher erst mal nur von einem Zwischenstadium von StäB sprechen.
Eine Weiterentwicklung ist unabdingbar, und die bisherigen und in diesem Buch dankenswerterweise breit dargestellten Erfahrungen seit 2018 werden hierbei einfließen. Eines ist aber jetzt schon sicher, wie nicht nur die Münchner Gruppe feststellt: »Das StäB-Konzept [ist eine] Erfolgsgeschichte. Es hat sich in jeder Hinsicht bewährt« (S. 274). Ja mehr noch, es steht für einen Umbruch der Psychiatrie: hin zu einem Paradigma, das gemeindenah, alltags-, kontext- und personenbezogen ist – statt einseitig naturwissenschaftlich. Bitte nutzen!
Jürgen Karres in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024