Nicht selten erhalten die Mitglieder der Redaktion ein Buch, eine DVD oder auch nur einen Link mit der Bitte, die Publikation in der SP zu besprechen. So war es auch in diesem Fall. Ich habe mir den Text zunächst pflichtbewusst heruntergeladen – und dann tatsächlich fast ohne Pause verschlungen.
Dieses Buch ist kein auf Spannung angelegter Kriminalroman, sondern der Bericht über die Psychotherapie der Frau S.; gleichzeitig aber eine sehr persönliche Vorstellung ihrer Psychotherapeutin Sabine Breunig und eine Einführung in die Methode Psychotherapie. Es sind also drei Stränge, die in diesem Fachbuch auf schlichte Weise – wie ein klassischer Zopf – verschlungen und verflochten sind.
Natürlich ist es zunächst die Lebensgeschichte der Frau S., die den Leser fesselt und in Atem hält. Der Titel verrät es ja schon: Frau S. fühlt sich ein Leben lang schuldig, obwohl sie ihre Strafe abgesessen hat. Als 15-Jährige hat sie ihren Vater getötet. Es war dies der Schlussstrich unter eine extreme, entsetzlicherweise vielleicht gar nicht so seltene Kindheit. Und ein Martyrium des Missbrauchs. Vielleicht – so könnte man gegen Ende ahnen – war nicht alles ganz genau so, wie es Frau S. in ihren kurzen, kargen Sätzen beschreibt. »Ich glaube, ich habe meine Mutter am meisten geliebt von uns allen. Sie müssen wissen, bei uns war es nicht so wie bei anderen.
Meine Mutter hat ja fast nicht gesprochen. Bei uns wurde überhaupt nicht geredet. Sie hat auch nicht gekocht. Gar nichts gemacht hat sie. Nur auf dem Sofa gelegen.« Sabine Breunig lernt Frau S. kennen, als diese bereits 49 Jahre alt ist und eine Art Leben bereits gelebt hat. Sie war im Gefängnis, sie hat Kinder bekommen und wieder verloren, sie war unzählige Male in der Psychiatrie und schneidet sich tief in ihr eigenes Fleisch. Sie gibt an, seit 25 Jahren Borderline zu haben.
Es beginnt ein mühsamer, stockender Beziehungsaufbau. Eigentlich geht es in dem ganzen Buch um den Aufbau dieser Beziehung, um das Aushalten und Durchhalten. Sabine Breunig ergänzt die einzelnen Etappen jeweils durch Berichte ihres eigenen Lebens und beruflichen Werdegangs. Hinzu kommt eine sehr basale, aber vielleicht gerade deshalb so wirkungsvolle Einführung in die Geschichte der Psychotherapie, ihre Wirkfaktoren und die unterschiedlichen Richtungen.
So stapfen wir zu dritt – Frau S., Frau Breunig und ich – immer weiter durch morastiges Gelände. Am Ende des Wegs und des Buchs kann Frau S. vieles besser verstehen, vielleicht sogar reflektieren, und schneidet sich nur noch selten. Dieses Leben, das als ein ungeheuerlicher Schrecken begonnen hat, ist nun leidlich zu ertragen. Die Psychotherapie ist also ein voller Erfolg und mündet in das Schreibprojekt, dessen Ergebnis hier Thema ist. Lange habe ich gegrübelt, welche Zielgruppe am meisten profitieren könnte. Erfahrene Psychotherapeutinnen fühlen sich bei der Lektüre der theoretischen Überlegungen vielleicht unterfordert, werden aber die zwei anderen Stränge des Flechtwerks umso mehr bewundern.
Menschen in psychosozialer Ausbildung jeglicher Disziplin erhalten eine Ahnung von der Lebenswelt jener Kinder, denen sie später als erwachsenen Patientinnen, Klientinnen oder Mandantinnen begegnen werden. Es sind ja gerade nicht die Therapeuten, die an der Seite der Schwierigsten bleiben. Dieser Erfahrungsbericht zeigt auf beeindruckende Weise, wie das gehen kann: einem fragilen Menschen Halt geben.
Ilse Eichenbrenner in "Soziale Psychiatrie"
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024