Dieser Roman ist kurz, nur 154 Seiten in 16 kurzen Kapiteln. Aber er hat es in sich. In »Gesichter« erzählt die dänische Schriftstellerin Tove Ditlevsen von Lise Mundus, einer Kinderbuchautorin, die mit Mann und drei Kindern lebt und der ihr Alltag entgleitet. Sie verlässt nicht mehr die Wohnung, aus Angst, denn in jedem Menschen, dem sie begegnet, begegnen ihr Verformungen und Veränderungen in den Gesichtern. Sie sieht etwas, das andere nicht sehen. Ich fühlte mich an den altmodischen Ausdruck »Gesichte«, im Sinne von »eine Vision haben«, erinnert. Sie weiß nicht, wem und welchem Gesicht sie trauen kann; ihren Mann sieht sie mit zwei Gesichtern (»Zum ersten Mal während des Gesprächs sah sie in sein Gesicht. Es war verkehrt«). Diese Wahrnehmung (oder Wahn-Nehmung?) verunsichert sie zutiefst. »Vielleicht hatten sie ihre Gesichter sogar sorgfältig auf ihrer Kleidung abgelegt, denn Gesichter müssen sich ausruhen und waren beim Schlafen auch nicht dringend notwendig. Tagsüber veränderten sie sich unablässig wie Spiegelungen in aufgepeitschtem Wasser. Augen, Nase, Mund, wie konnte dieses schlichte Dreieck bloß so unendlich viele Variationen enthalten?«
Lise Mundus gerät in einen Strudel von Einsamkeit und Misstrauen; sie hört Stimmen, die sie verhöhnen und ihr Talent als Schriftstellerin in Misskredit ziehen. Nach einem Suizidversuch mit Schlaftabletten findet sie sich in der Klinik wieder. »Ich bin von Verrückten umgeben, dachte Lise, und ein klarer Überlebenswille flammte in ihr auf. Es kam darauf an, nicht den Verstand zu verlieren, dann konnten sie ihr nicht ernsthaft schaden.« In einer schnörkellosen, direkten und lakonischen Sprache lesen wir von der Welt der Lise Mundus, die mit und gegen ihre abwertenden Stimmen kämpft, die sie aus den Heizungsrohren hört; wie sie sich weigert, Flüssigkeit zu sich zu nehmen aus Angst, vergiftet zu werden. Im Kopfkissen sucht sie nach dem Mikrofon, aus dem es zu ihr spricht – doch niemand glaubt ihr. Der Roman, in der dritten Person geschrieben, bleibt dicht an der Sichtweise seiner Heldin.
»Gesichter« ist 1968 erschienen, ein Jahr, nachdem Ditlevsen die ersten beiden Bände ihrer »Kopenhagen-Trilogie« (»Kindheit« und »Jugend«; der dritte Band »Abhängigkeit« erschien 1971) veröffentlicht hatte. »Gesichter« ist – im Gegensatz zur »Kopenhagen-Trilogie« – stärker fiktionalisiert, dürfte aber auch autobiografischem Erleben entsprungen sein. »Die Autorin schrieb offen über die Höhen und Tiefen ihres Lebens« (so der Aufbau-Verlag in seiner Ankündigung) und »schöpft aus der ›Seelenbibliothek‹ ihrer Erinnerungen« (Ursel Allenstein im Nachwort von »Kindheit«). Krisen, Depressionen, Alkohol und Psychosen waren präsente Erfahrungen am Abgrund im Leben Tove Ditlevsens, ebenso wie Erfüllung und Glück. Im März 1976 starb sie, 58-jährig, an einer Überdosis Schlaftabletten.
Erst seit 2020 wird diese Autorin, deren Literatur in Dänemark zwar beliebt, aber nicht anerkannt war, von einem breiten Publikum wiederentdeckt. Auch wird Ditlevsen gepriesen als eine Vorläuferin von Autorinnen des autobiografischen Schreibens wie der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux. Über »Gesichter« schrieb Ditlevsen später, 1975, in ihren Memoiren: »Ich benutze meine psychotischen Erfahrungen dazu, die vielleicht bitterste Krise in unserer tragischen Ehe zu verschleiern.« Ihre Übersetzerin Ursel Allenstein schreibt dazu im Nachwort: »Ditlevsen verarbeitet hier also nicht in erster Linie ihre Erkrankung, sie benutzt sie aktiv. Sie flüchtet sich in sie hinein, um den nötigen Abstand zum Erlebten zu gewinnen […]. Die bildhafte Sprache macht die Verschiebungen in Lises Wahrnehmung und ihre extreme Durchlässigkeit eindrücklich erfahrbar – und eine scharfe Trennung von Fakten und Fiktion unmöglich.« An dieser Grenze gehen wir auch als Leser entlang, bangend um die Protagonistin und zugleich beeindruckt von ihrer Kraft (»Ganz im Gegenteil hatte sie das Gefühl, ihr Gehirn hätte noch nie so klar und logisch gearbeitet wie jetzt«).
Eine Wendung erlebt Lise erst, als ihr eine Mitpatientin, Frau Kristensen, erscheint, der sie als erstem Menschen wieder vertraut. Als Lise ihr gesteht, dem Oberarzt von ihren Verdächtigungen erzählt zu haben, sagt diese: »Das war dumm. Sie dürfen ihm nie etwas von Tonbandgeräten und Mikrophonen und Wasserleitungen und Heizungen und all dem erzählen. Sie dürfen nur sagen, dass Sie wissen, wo Sie sind, welches Jahr wir haben und welcher König gerade regiert.«
Auch bei der Beschreibung des Genesungswegs überrascht der Roman, wenn er das Ausbleiben der Stimmen als eine schmerzliche Erfahrung schildert. Das »Happy End«, die Rückkehr zu dem Ehemann, bleibt trotz aller Beteuerungen am Ende brüchig und fragil. Nur das Schreiben scheint Lise wieder erstrebenswert. Am Ende findet Lise Mundus wieder in die vermeintliche Realität zurück. Wirklich? Und ist sie nun »gesund«? »Aber was war in dieser Welt wirklich und was nicht? War es nicht auch eine Art Krankheit, dass die Leute durch die Gegend spazierten und ihr eigenes Ich festhielten? Dieses ganze Chaos aus Stimmen, Gesichtern und Erinnerungen, die sie nur tröpfchenweise entweichen ließen, ohne sicher zu sein, sie jemals wiederzubekommen.«
Torsten Flögel in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024