Dramen werden verfasst, um sie als Theaterstück auf der Bühne aufzuführen. Kann man Dramen dennoch lesen und zugleich die Intensität einer Bühnenaufführung nacherleben? Lässt sich ein komplexes Thema wie T4 auf einer Bühne in zwei Akten darstellen? Man kann, und es wundert, dass nicht längst im deutschsprachigen Raum eine Reihe von Bühnenstücken zu dieser Thematik geschrieben wurden.
Desto reizvoller ist es, dies aus der Hand eines italienischen Autors und seiner Theatergruppe erleben zu dürfen. Sie haben zusammen mit den beiden Darstellerinnen diesen Text und seine Atmosphäre erarbeitet. Seit der Erstaufführung 2002 erlebte das Bühnenstück zahllose Vorstellungen in ganz Italien mit großem Erfolg.
Dem deutschen Publikum dürfte wenig bekannt sein, dass in der Zeit des faschistischen Italiens auch zahlreiche Patienten aus den Provinzen Bolzano, Trento, Belluno, Vicenza, Verona und Udine nach Baden-Württemberg verlegt wurden. Insofern ist es aber nicht ganz so verwunderlich, dass der Verlag Psychiatrie und Geschichte des Zentrums für Psychiatrie Südwürttemberg die Übersetzung dieses Theaterstücks vorlegt, dass emotional, aber zugleich historisch fundiert den Zugang zu diesem Thema auf poetische Weise sucht.
Im Kriegswinter 1941 begegnen sich die eigenwillige Ophelia, nach ihrer Entlassung aus einer psychiatrischen Anstalt in der Villa ihrer Eltern lebend, und die Krankenschwester Gertrud, noch in dieser Anstalt arbeitend, in welcher Tod und Schrecken mehr und mehr einziehen. Gertrud wurde beauftragt, zu prüfen, ob auch Ophelia ein »Fall« im Sinne der »Euthanasie« ist. Doch es entsteht eine Bindung zwischen den beiden Frauen, eine Freundschaft aus gegenseitiger Sorge und Anteilnahme. Gertrud will erfahren, welche Selektionskriterien gelten, um Ophelia zu schützen. Beide üben die Ophelias »Prüfung« vor der T4-Ärztekommission. Trotz aller »Fehler« gelingt es, Ophelia zu zeigen, dass sie auch nützlich ist, nicht zuletzt, weil sie die Blumen besonders schön bindet.
Aus der Retrospektive berichten Gertrud und Ophelia über eine mehr als graue Zeit, in der die Blumen in Ophelias Garten beiden Frauen Halt gaben. Ophelia trägt vor, wie der Krieg ihre Blumen verbrannt hat, sie aber für deren Leben und Wiedererblühen sorgen müsse. Leser und Leserinnen finden sich in dieser Welt wieder, in der Alpenveilchen, Lilien und Rosen von Ophelia in einer Landschaft aus Stahl kultiviert werden. Der Autor Pietro Floridia sagt dazu im Vorwort: »In einer Welt, die nichts anderes als Produktivität fordert, kultiviert sie ihre Poesie.« So ist es.
Christian Zechert in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024