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Psychiatrie Verlag

Bipolar – zwei Perspektiven

Die Psychiaterin Astrid Freisen beschäftigt sich mit der bipolaren Erkrankung. Ganz konkret, als ihre eigene Erkrankung. Das macht das Ganze sehr anschaulich, eine Betrachtung aus zwei Perspektiven erhellt den Gegenstand.

Die bipolare Erkrankung ist auch bekannt unter dem Begriff »manisch-depressive Erkrankung«. Dabei wechseln sich euphorische bzw. manische Phasen mit niedergeschlagenen Phasen ab.

Wann begann bei der Autorin die Erkrankung? Stimmungsschwankungen begleiten sie, seit sie denken kann. Mit der Pubertät verstärkt sich die Intensität der beiden Gefühlsphasen. Sie beobachtet bei sich depressive Phasen im Winter und kleinere (hypo-)manische Phasen im Sommer. Frau Freisen erlebt dabei ihre Depression wie in einem Film. Morgens sei es am schlimmsten, zum Abend hin nehme die Depression meist ab. In der Depression verringert sich ihre Aktivität, und sie vermeidet den Kontakt zu anderen Menschen. Als persönliches Frühwarnzeichen beobachtet sie das Symptom »nicht ans Telefon gehen« und die Nichtbeantwortung von E-Mails. Der Leserschaft rät sie: Bei schwerwiegenden Schlafstörungen sollte man ärztliche Hilfe zu Rate ziehen.

Ihre Gedanken drehen sich darum, versagt zu haben. Routine wird zur Überforderung. Im weiteren Verlauf gehen ihr auch Suizidgedanken durch den Kopf. Lesen und Fernsehen lenken nicht mehr ab. Schließlich entscheidet sie sich, in die Klinik zu gehen, in die sie eigentlich nicht wollte. Hier geht sie erste Schritte: Langsam nimmt sie die Menschen um sich herum wieder wahr. Irgendwann lacht sie wieder. Kaum geht es ihr besser, möchte sie auch wieder zur Arbeit. Im Sommer entwickeln sich dann Hypomanien, die Frau Freisen zunächst als unbeschwerte Zeit wahrnimmt. Wenige Jahre später geht über eine ausgeprägte manische Phase beinahe ihre Ehe in die Brüche, und sie verliert die Kontrolle über ihr Leben. Bei einem erneuten Klinikaufenthalt beginnt sie dann, ihre Diagnose anzunehmen. Doch ihre Scham- und Schuldgefühle sind lange Zeit groß.

Tatsächlich vergehen bei der bipolaren Erkrankung häufig Jahre bis zur richtigen Diagnosestellung. Grund dafür sind die beiden Phasen mit den unterschiedlichen Symptomen, wobei Ärzte die Betroffenen in ihrer Manie oft nicht erleben. Zudem fühlen diese sich in der manischen Phase meist erst mal sehr gut – besonders nach einer depressiven Episode. Sie haben viel Energie und brauchen wenig Schlaf. Dabei werden sie auch anfangs häufig nicht komplett euphorisch. Gleichzeitig kommen aber auch Wut und Gereiztheit vor, ein erhöhter Rededrang und zunehmender Realitätsverlust. Menschen berichten, dass sie sich an vieles, was sie in der Manie erlebt, gesagt und getan haben, später nicht erinnern.

Angehörige stehen insgesamt häufig vor einem Rätsel, und insbesondere Manien können Freundschaften oder Beziehungen zerstören. Deshalb ist es wichtig, Angehörige in die Behandlung miteinzubeziehen.

Die Behandlung der bipolaren Störung beruht auf mehreren Säulen: Psychoedukation, medikamentöse und psychiatrische Behandlung, Psychotherapie, Selbsthilfe, Selbstbeobachtung, Vorsorge und Veränderung des Lebensstils. Lithium gilt in der Therapie von bipolaren Störungen als Goldstandard, da es die beiden Pole gefühlsmäßig eingrenzt. Vor allem Regelmäßigkeit in der Lebensführung kann dem Auf und Ab von Manie und Depression etwas entgegensetzen. Zudem kann es sinnvoll sein, frühzeitig Behandlungsvereinbarungen zu treffen.

Auch Astrid Freisen hilft die medikamentöse Behandlung, und sie lernt in der Therapie gute Hilfsmittel und Ansatzpunkte kennen, um mit der Erkrankung umzugehen. Unter anderem empfiehlt ihr der Therapeut, sich Grenzen zu setzen und Stress zu vermeiden. Sie beginnt, auf einen regelmäßigen Tagesablauf und Schlafrhythmus zu achten. Außerdem lernt sie, Frühwarnzeichen zu erkennen, vor allem Isolation bei Depression und Gereiztheit bei Manie.

Obwohl Frau Freisen als Psychiaterin viel Wissen über psychische Erkrankungen hatte, schob sie die bipolare Diagnose lange Zeit von sich weg. Die Manie schien ihr eine »normale« Phase zu sein. Sie fühlte sich ja gut. Für die Akzeptanz der Erkrankung und auch das öffentliche Sprechen darüber brauchte sie einige Jahre. In der Deutschen Gesellschaft für Bipolare Störungen e.V. (DGBS) hat sie ein Referat für »Selbst Betroffene Profis« gegründet. Mit Vorträgen und Interviews will sie über die Erkrankung aufklären und sie entstigmatisieren. Heute lebt sie mit ihrem Mann auf Island und arbeitet dort als Psychiaterin.

Gerade bei der bipolaren Erkrankung trennen die Betroffenen, die Profis und die Angehörigen oft Verständniswelten. Jeder spricht seine eigene Sprache. Das Verdienst von Frau Freisens Buch liegt vor allem darin, zum gegenseitigen Verständnis beizutragen. Grenzen zu öffnen.

Jürgen Blume in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 02.08.2024