Es ist ein Segen, mit welcher Hingabe Will Hall aus den »Bildern und Stimmen des Wahnsinns« ein Mosaik vernünftiger Visionen gestaltet und einer verrückten Welt bürgerlicher Verhältnisse gegenüberstellt. »Jenseits der Psychiatrie« ist das klügste und kurzweiligste Buch, das mir in den letzten fünf Jahren zur Besprechung vorgelegt wurde. Eingangs erläutert der Autor, es gehe um ein neues Verständnis von Verrücktheit: »Meine Verrücktheit führt mich an einen Ort, der realer ist als das, was alle für real halten.« (S. 15)
Will Hall arbeitet in den USA als Psychologischer Psychotherapeut (ausgebildet nach C.G. Jung) und hat den Ruf, führender Organisator der Psychiatriebetroffenenbewegung zu sein. Er hat zahlreiche Preise bekommen und ist Autor des in 15 Sprachen übersetzten Werkes »Harm Reduction Guide to Coming Off Psychiatric Drugs« (2013). Seit Jahren betreibt er mit Mitstreitern und Mitstreiterinnen das »Mad-Radio«, ein psychiatriekritisches Medium in den USA.
Hall bringt mit seiner einfühlsamen, beinahe zärtlichen Haltung der Anteilnahme 65 Autoren und Autorinnen über ihre Verletzungen und ihre Genesungsprozesse ins Gespräch. Mit seinen kenntnisreichen Fragen schafft er es, die Zungen zu lösen. Manchmal steckt schon in den Fragen ein Wissen, welches das Notizbuch zücken lässt. Die Lektüre ist schwierig, wenn gelegentlich grausame Verbrechen in Zusammenhang mit Gewalt und Zwang angedeutet oder benannt werden. Andererseits haben die einzelnen Beiträge eine jeweils überschaubare Länge. Das Buch zeigt, wie sich Menschen Spielräume schaffen, die den verrückten Verhältnissen trotzen. Die Beiträge berichten in eindrücklicher Weise vom individuellen und manchmal kollektiven Umgang mit psychischen Problemlagen und seelischen Schwierigkeiten und davon, mit welchem Unverständnis die bürgerliche Gesellschaft auf außergewöhnliche Wahrnehmungen reagiert. Bemerkenswert ist die Vielfalt der Autoren und Autorinnen: Psychiatriebetroffene, Sozialarbeitende, künstlerisch Tätige, auch einige Ärzte und Ärztinnen, Anwälte und Anwältinnen, Therapeuten und Therapeutinnen. Die Bandbreite der Themen ist enorm: Diagnostik und Psychopharmaka-»Therapie«, Emotionen, Familiendynamiken, Selbsthilfeprojekte und anonyme Selbsthilfe, Sucht und Abhängigkeitserkrankungen, Stimmenhören, erfahrungsfokussierte Begleitung, Krisenerlebnisse, Sinnkonstruktionen, psychotisches Erleben und dessen Korrespondenz mit der sogenannten Realität, religiöse und spirituelle Erfahrungen, Reformprojekte und immer wieder: künstlerisches Handeln, also Schreiben, Malen, Musik, Tanz und Bewegung. Die Künste sind neben der Psychotherapie und verschiedenen sozialen Settings eine wesentliche Säule und Strategie zur Bewältigung von seelischen Notlagen. Das gilt insbesondere, wenn das »Zuschütten« und die symptomatische Behandlung durch biochemische Substanzen begrenzt werden soll.
Schockierend und neu war, wie unverhohlen die Pharmaindustrie auf die Diagnostik in der Psychiatrie Einfluss nimmt. Der Therapeut und Wissenschaftsjournalist Gary Greenberg erklärt dies am Beispiel des diagnostischen Manuals DSM. Oft brauche es nicht einmal eine Diagnose: 72 Prozent der Verschreibungen von Antidepressiva werden in Amerika ohne Diagnose ausgestellt. (S. 32) Die englische Dozentin Joanna Monerieff kritisiert, dass die Pharmalobby den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben gedenkt: »Im Grunde kann man die Behandlung von Psychopharmaka mit dem Trinken von Alkohol gegen soziale Ängste vergleichen. Alkohol kann bei sozialen Ängsten hilfreich sein, aber das liegt nicht daran, dass die Menschen unter Alkoholmangel leiden. An der Ursache von Ängsten ändert sich nichts.« (S. 47)
Hall formuliert sein Anliegen so: »›Jenseits der Psychiatrie‹ ist eine Art Gegenzauber, eine Beschwörung, um die Angst abzuwehren.« (S. 356) Er schafft mit diesem Werk eine differenzierte Kritik der Mainstream-Psychiatrie, vor allem aus der parteilichen Perspektive der Betroffenen, aber ebenso mit praktischen Beispielen professionellen psychologisch-psychiatrischen Handelns. Mit folgender Bemerkung beschließt er das Buch: »Unterdrückerische Systeme wandeln sich, wenn wir ihnen einen Weg nach vorn bieten, nicht wenn wir sie in die Ecke drängen. […] Wir alle haben die gleichen menschlichen Schattenseiten, geprägt von Angst, Eigeninteresse und Macht. Soziale Bewegungen sind wirksam, wenn sie die Menschen dazu einladen, sich gemeinsam zu verändern, und der größte Sieg über den Missbrauch der Psychiatrie besteht darin, wenn alle, die mit dem psychiatrischen System in Berührung kommen – Patienten, Professionelle und Familienmitglieder gleichermaßen – die volle Menschlichkeit wiedergewinnen.« (S. 357) Dieses Werk sollte in die Literaturlisten und auf die Lehrpläne zur Propädeutik der Psychiatrie in Medizin, Pflege, Psychologie und Sozialer Arbeit gehören.
Ein besonderer Dank gilt Peter Lehmann, der einerseits das Buch verlegt und andererseits mit Akribie das umfangreiche Werk aus dem Englischen in die deutsche Sprache übersetzt hat.
Stephan Antczack in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 31.07.2024