Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Der empathische Stuhl

Die Idee hat was: Das Geschehen auf einer psychiatrischen Station wird erzählt aus der Perspektive eines Stuhls. Der kann sehen, hören, riechen, denken, fühlen und sich einfühlen. Und er ist, so viel sei vorweggenommen, etwas dünnhäutig und suggestibel. Früher stand er in der Uni-Mensa, da war seine Welt noch in Ordnung. Das Schicksal hat ihn unverschuldet auf diese Station verschlagen.

Es ist nicht wichtig, warum; wichtig ist nur, dass Sie ihm glauben, dem Stuhl. »Wenn ich nicht in der Psychiatrie wäre, sondern in einem Märchen oder einem Comic, würden Sie mir vermutlich sofort glauben, dass ich ein echter Stuhl bin. Aber so? Vermutlich glauben Sie mir schon, dass ich glaube, ein Stuhl zu sein. […] Wie können Sie mit der Ungewissheit dieses Buch lesen? Immer sich zu fragen, ob ich nun ein Patient bin, der glaubt, ein Stuhl zu sein, oder ob ich wirklich ein Stuhl bin, der diese Geschichte erzählt.

Aber ich bin wirklich ein Stuhl und es verletzt mich, wenn Sie mir nicht glauben. Stellen Sie sich mal vor, Sie sind wirklich ein Stuhl in der Psychiatrie und keiner glaubt Ihnen. Alle halten sie für einen verrückten Patienten. Das ist furchtbar. Sie lesen dann mein Buch ganz anders und hinterfragen ständig meinen Verstand und meine Wahrnehmung. Also bitte, glauben Sie mir!« (S. 12f.)

Nach diesem überzeugenden Plädoyer erzählt uns der Stuhl glaubwürdig seine Erlebnisse im Wartebereich der Station. Die wird offen geführt, ist diagnosegemischt belegt und bietet das klassische Repertoire von der Morgenrunde über Einzel- und Gruppentherapie bis zur Oberarztvisite. Der Stuhl sieht Patientinnen und Patienten im Umgang mit sich selbst und den anderen und dem Personal. Er beobachtet genau, beschreibt das Gesehene und Gehörte in gefälliger Sprache und macht sich so seine Gedanken.

Und nicht nur das – als er vom Wartezimmer in den Therapieraum verrückt wird, wird er unfreiwillig Zeuge der teils dramatischen Krankheitsgeschichten. Das bleibt nicht ohne Folgen. Das Erlebte zeigt Wirkung, der Stuhl schwingt emotional heftig mit. Als die Vorstellungen gar zu heftig werden, möchte er am liebsten den Raum verlassen – was einem Stuhl natürlich nicht ohne Weiteres möglich ist. Sie ahnen schon, dissoziative Zustände sind die fast unausweichliche Folge …

»Der empathische Stuhl« ist ein lesenswertes Erstlingswerk, im Selbstverlag vermutlich unter Pseudonym veröffentlicht. Die Autorin plädiert für »mehr Verständnis, Geduld und Achtsamkeit für eigenartig wirkende Verhaltensweisen und Wahrnehmungen unserer Mitmenschen« (Klappentext). Dafür wünsche ich viel Erfolg. Meine Empfehlung, besonders für junge Leserinnen und Leser, Schüler, Auszubildende und (nicht nur, aber auch) Angehörige psychisch Kranker.

Martin Osinski in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 17.04.2024