Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

„Es ist so mutig, dass Sie den Schritt gegangen sind. Und Ihnen steht Hilfe zu.“

Mit den Worten der Überschrift wenden sich die Autorinnen und der Autor am Ende des Kapitels »Die Zeit nach dem Ausstieg: Weiterleben lernen« direkt an lesende Betroffene. Das hier signalisierte Engagement für spezialisiert abgestimmtes Empowerment von in Sektenkontexten Aufgewachsenen löst »Sektenkinder« von Kathrin Kaufmann, Laura Illig und Johannes Jungbauer voll ein.

Dem erwähnten dritten Hauptteil »… Weiterleben lernen« gehen außer einem Vorwort und einem ersten, sehr instruktiven Erfahrungsbericht von Melanie, 38, die Abschnitte »Wie Kinder in sogenannten Sekten aufwachsen« und »Der Ausstieg: Heimatverlust und Neuanfang« voran; mehrere kürzere Texte folgen: »Von Sektenkind zu Sektenkind«, »Von Experte zu Expertin – therapeutische Begleitung und Beratung« sowie »Familieneinheit und Bindung in geschlossenen Gruppen – Perspektive einer Expertin und Aussteigerin«. Abschließend bietet das Buch einen Serviceteil mit Literaturempfehlungen, Fachliteratur und Hinweisen zu Filmen, Serien, Dokumentationen, Podcasts und Weblinks sowie zu Beratungs- und Anlaufstellen und Selbsthilfegruppen in Deutschland, Österreich und der Schweiz – insgesamt eine dem Thema umfassend gerecht werdende Struktur, die Betroffene, Angehörige, in Freundschaft Verbundene, Interessierte und nicht zuletzt professionell Helfende profund zu allen Belangen, die in Bezug auf in Sekten sozialisierten Menschen als relevant gelten können, orientiert. Der Gedanke, es hier mit einem (effizienten) Standardwerk zu tun zu haben, liegt nach der Lektüre dann auch nahe.

Dabei ist es den Verfasserinnen und dem Verfasser im Verlauf des Buches wichtig, Erfahrungsberichten ein Forum zu geben. Ungefähr die Hälfte des Textumfangs der drei Hauptkapitel besteht aus zitierten Auskünften von in religiösen Organisationen oder Glaubensgemeinschaften aufgewachsenen Menschen. Hierbei handelt es sich um Gruppen, die von ihren Mitgliedern laut aktueller sozialwissenschaftlicher »Sekten«-Definition bedingungslose Loyalität und Gehorsam (z.B. gegenüber einer Ideologie oder einer Führungsperson) verlangen, dabei ein hohes Maß an Kontrolle ausüben und die persönliche Autonomie ihrer Mitglieder stark einschränken. Weitere spezifische Merkmale von Sekten, die von Erfahrungsexperte Christian, 37, »destruktive Gemeinschaften« genannt werden, finden sich in der internen vertikal-hierarchischen Stufung und den nach außen vertretenden Exklusivitätsansprüchen »geadelter Seelen« mit Wissensvorsprung (und augenscheinlichem Elitewillen und Distinktionswunsch), mit allen psychosozialen Konsequenzen für die sich in ihren Einzugsbereichen befindlichen Personen. Beispielsweise berichtet Bernd, 59, von einem folgenreichen inhärenten, narzisstisch-arroganten Erniedrigungsprogramm: »Ich fühlte mich natürlich irgendwo geehrt, dass ich den anderen überlegen war. […] davon bin ich vielleicht manchmal bis heute noch nicht ganz frei, muss ich sagen. Dass ich gefühlt noch nicht immer auf Augenhöhe bin mit dem Rest der Welt.«

Beiläufig entwerfen die an dem Buch Beteiligten einen umfangreichen Katalog traumatisierender Erfahrungen, die Menschen, die in Sekten leben, und besonders diejenigen, die in ihnen sozialisiert werden, erwarten. Dazu zählen u.a. ein rückschrittliches Frauenbild mit Wertunterschied zwischen Mann und Frau zuungunsten der Frauen; Unterbindung familiärer Nähe; Rechtsfreiheit; Ausbeutung; Bloßstellung vor der Gruppe; körperliche Züchtigung; massive Defizitorientierung mit Fokussierung von »Fehlverhalten«, »Schwächen«, »Schuld« etc.; sexualisierte Übergriffe (im Buch mehrfach als »sexuelle Übergriffe« oder »sexuelle Gewalt« bezeichnet; wahrhaft Sexuelles definiert sich über Einvernehmlichkeit, weswegen ihm ungewollte Übergriffe keinesfalls zuzurechnen sind).

Als Folgen solcher Erfahrungen im Kindes- und Jugendalter werden aufgezeigt: Selbstwertmangel bzw. Selbstwahrnehmung als »schlecht« und »böse«; Verunmöglichen von Zugang zu den eigenen Gefühlen und von Identitätsbildung; Unsicherheit, Misstrauen, Angst (»Ur-Misstrauen«); Wut über die erlebte Ohnmacht; erschwerte sexuelle Entwicklung; unfreiwillige Außenseiterrolle in der Gesellschaft; vorläufiger »sozialer Tod« nach Ausstieg; suizidale Gedanken.

Zurecht stellt »Sektenkinder« als Ziele und Erfolge eines Lebens nach dem Sektenausstieg u.a. Selbstakzeptanz und ein selbstbestimmtes Leben in Aussicht. Das Buch benennt als (lediglich einen) Motor solcher Entwicklung die psychotherapeutische Arbeit und beschreibt diese in kenntnisreicher Weise als Nachnährungs- bzw. Nachbeelterungserfahrung mit einer auf der Beziehungsebene Halt gebenden, verlässlichen Person und einem entlastend wirkenden Raum, der es möglich macht, »(erstmals) die eigene Geschichte zu erzählen, Gedanken und Gefühle zu versprachlichen und dabei wahrgenommen und akzeptiert zu werden«.

Dem insbesondere Betroffenen sicherlich überaus hilfreichen Buch ist weite Verbreitung und große öffentliche Beachtung zu wünschen.

Florian Herbst in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 17.04.2024