Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
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Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Lass uns mit den Toten tanzen

Oktober 2019. Fast 2.000 Menschen sind zum Solidaritätskonzert zugunsten der zivilen Seenotrettung in die Kölner Philharmonie gekommen. Hauptgast ist die 36-jährige Kapitänin Pia Klemp. Sie hat mit ihrer Crew auf den Schiffen Iuventa und Sea-Watch 3 über 1.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet. Jetzt ist sie mit zehn weiteren Crew-Mitgliedern der Iuventa in Italien angeklagt wegen Beihilfe zur illegalen Einwanderung. Im Januar beginnt der Prozess, es drohen lange Haft- und Geldstrafen.

In Köln berichtet Klemp klar, kurz und ohne Pathos über ihre Erfahrungen. Ihre Schilderungen gehen unter die Haut. Nein, wehrt sie ab, eine Heldin ist sie nicht, will sie nicht sein. Es geht ihr um Menschlichkeit, um Solidarität. Jetzt darf sie nicht mehr rausfahren. Das Schiff ist beschlagnahmt. Der Prozess hängt drohend über ihr und der Crew. Sie hat die Zeit genutzt und ein Buch geschrieben. Im Laufe des Abends werden daraus Passagen vorgelesen, die das Publikum emotional sehr berühren: Schilderungen von der aufgeregten Sichtung gekenterter Schlauchboote, der Rettung ertrinkender Menschen, der Suche nach den Toten.

Nach der Veranstaltung suche ich das Buch vergeblich am Stand der Seenotrettung im Foyer. Nein, keine Verkaufsschau! Dank meiner Buchhandlung halte ich es kurze Zeit später in den Händen: »Lass uns mit den Toten tanzen. Roman« Ein Roman? Schnell wird klar: Die Ich-Erzählerin Klemp hat die eigenen Erlebnisse literarisch aufbereitet. Es sind intensiv-bewegte Schilderungen echter Erfahrungen, ihrer psychischen Verfassung, hauteng verknüpft mit den Geschehnissen, über die sie in der Philharmonie berichtet hat.

Da ist der zweijährige Junge, der nach der Auseinandersetzung mit der bewaffneten libyschen Küstenwache von der Crew nur noch tot aus dem Meer geborgen werden konnte, die traumatisierte Mutter hat es an Bord geschafft. Das Kind wird in der Tiefkühltruhe des Schiffes gelegt, weil die Kapitänin es nicht dem Meer überlassen will. Da sind die Auseinandersetzungen mit der libyschen Besatzung, die die Rettung der Ertrinkenden auf die Iuventa verhindern will und die Menschen an Bord ihres Schiffes zerrt, sie dort schlägt und misshandelt, um sie nach Libyen zurückzubringen in die Lager.

Da sind die traumatisierten geretteten »Gäste«, die es an Bord geschafft haben, und die Crew, die nochmal mit dem Beiboot rausfährt, um die Toten zu sichten. Mit professioneller Coolness, der Verzweiflung trotzend, versuchen alle gemeinsam, die Versorgung auf dem Schiff aufrechtzuerhalten. Später kommt heraus, dass das Schiff verwanzt war, angeordnet von »Rom«. Auch das ist Realität.

Das Buch ist nicht nur ein »Roman« über zivile Seenotrettung. Es ist auch ein politisches Pamphlet. Die Capitana versteht sich als Anarchistin, Tierschützerin, Veganerin, Feministin, kämpft für Herrschaftsfreiheit, will »die Welt retten«. Die Crew wird als coole bunte Truppe geschildert, »Hippies, Punks, Weltverbesserer mit merkwürdigen Frisuren und Tattoos«, mit vielen Schrullen und Liebenswürdigkeiten. Der Spaßfaktor zwischen den Rettungsaktionen wird genährt durch palettenweise Dosen(!)bier und Selbstgedrehte, manchmal wähnt man sich beim Lesen auf einem Abenteuerspielplatz oder einer Achterbahn. Ist das ein Versuch, Traumatisierung zu verarbeiten?

Die Ich-Erzählerin berichtet über ihre Zweifel und die Selbsthinterfragung der eigenen Motive. Über ihren Kampf gegen die Borniertheit der von »Rom« befehligten Küstenwache, ihre Verzweiflung angesichts der Brutalität der Libyer und der Mittäterschaft der EU … genauso wie über ihr Liebesabenteuer mit einem Crewmitglied und die Depression, die auf die Trennung folgt.

Sprachlich ist das Buch eine kleine Herausforderung. Der oft verwendete, von Coolness durchzogene Anarcho-Szene-Sprech ist für meinen Geschmack ein bisschen zu fäkalgetränkt, wirkt aber nicht aufgesetzt, sondern in seiner Direktheit authentisch. Viele Beschreibungen glänzen mit lakonischem Sarkasmus und schwarzem Humor, manche sind voll gelungener Poesie, andere wiederum erscheinen mir grenzwertig kitschig.

Das Buch hinterlässt ambivalente Gefühle. Man erfährt viel Privates, eher wenig über die geretteten Menschen. Diese müssen so schnell wie möglich »übergeben« werden an die offizielle Küstenwache. Sonst droht der Vorwurf »Menschenschmuggel«. Da bleibt kaum Zeit für Kontakt. Wenn es bei der Lektüre »spannend« wird, ja »unterhaltsam«, drängt sich sofort der Gedanke auf: Dies ist kein Abenteuerroman. Es ist Realität. Jeden Tag auf dem Mittelmeer. Kriminalisierung der Seenotrettung. Anklage. Das alles auf Betreiben der EU – der Friedensnobelpreisträgerin 2012!

Ich bin dankbar, dass es mutige Menschen wie Pia Klemp, Carola Rackete und all die anderen unbekannten und ungenannten Menschen auf den Schiffen gibt, die zivilen Ungehorsam leisten und das Unmögliche versuchen. Unterstützen wir sie! Kauft das Buch, lest und verschenkt es. Es ist auch ein Zeitdokument über das lautlose Verschwinden von ungezählten Menschen, die vergeblich Schutz vor Armut, Misshandlung und Verfolgung gesucht haben.

Michaela Hoffmann in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 17.04.2024