Das Buch „Camilles Schatten“ ist eine Neuausgabe 2023 des Debütromans aus dem Jahr 2005. Die Autorin Susanne Konrad schreibt flüssig und anschaulich. Der Roman liest sich leicht und das bei einem schweren Thema: „Das Hauptproblem vieler Psychoseerfahrener ist, dass sie sich selbst abwerten.“ (S. 119) Psychoseerfahrung und Selbststigmatisierung ist also Inhalt des Romans.
Die Leser des Romans erleben zwei Erzählungen, die kunstvoll miteinander verschränkt sind: Das Schicksal von Birgit Schindler, die als Ärztin eine Psychose erfährt. Dies wird aus der Ich-Erzähler-Haltung geschildert. Und die Geschichte von Camille Claudel, die als Künstlerin in die Psychiatrie eingewiesen wird. „Camilles Schicksal berührt mich noch immer zutiefst, auch wenn ich weiß, ich bin nicht sie und sie ist nicht ich. Und doch gehören wir zusammen.“ (S.145) Camille erfährt die Behandlung vor 1945 und die Ärztin deutlich danach. Und damit erlebt die Ärztin auch die Selbsthilfeaktivisten um Dorothea Buck und den Trialog. Buck kommt verschlüsselt als „Eleonore“ im Roman vor und zu Wort. Für die Psychiatrie-Erfahrener (PE) Bewegung wird die Figur der Emma eingeführt und erlebbar gemacht, wie PEs helfen können mit der Psychose- und Psychiatrie-Erfahrung besser zurechtzukommen.
Camilles Schatten ist dabei nicht explizit im Roman zugange, sondern viel mehr ist das Leben von Camille Claudel, die mit Rodin eine Liebesbeziehung hat, eine Metaebene für das Leben der Protagonistin und Ich-Erzählerin Birgit. Das wirkt immer nachvollziehbar und ist gut verzahnt. Die Autorin Susanne Konrad beweist hier ihre Könnerschaft. Die parallele der Situation der beiden Frauen wirkt nie gewollt und gekünstelt. Um auf Rodin zu verweisen, nennt die Autorin den Geliebten von Birgit Schindler mit Nachnamen Rohde. Die Namen ähneln sich und die Autorin bemerkt dies selbst explizit auf Seite 108.
Und auch die Lebensumstände scheinen sich zu gleichen. Hier eine erfolgreiche Ärztin, die sich in ihren Vorgesetzten verliebt und sich als Geliebte ohne jede Reue in dessen Ehe drängt. Soll man da Sympathie und Identifikation empfinden? Dort eine vielversprechende Bildhauerin, die sich in ihren Vorgesetzten verliebt, in einem Frankreich, wo die Männer das Recht auf eine Geliebte behaupten.
Insgesamt ist das Buch kurzweilig und sehr gelungen. Der flüssige Stil ist konservativ und angenehm zu lesen. Die Handlung ist keine Tragödie und keine Komödie. Es gibt auch keine Lacher, keinen Humor. Insgesamt wirkt der Roman ernst und seriös. Aber nach dramaturgischer Zuspitzung gelingt im achten Kapitel die selbstreflexive Erzählung einer erfundenen Biographie von Camille Claudel, die alles in Wohlgefallen aufzulösen scheint, aber eben nicht die Wahrheit ist.
Der Roman erzählt nicht nur, wie eine Ärztin in einer psychotische Krise hinein gerät und vier Wochen in der Psychiatrie untergebracht wird. Sondern in der erzählten Zeit von Dezember bis zum folgenden Juli, gelingt es der Autorin auch eine Recovery-Geschichte zu erzählen, die aber eben nicht vordergründig eine Recovery-Geschichte ist, es wird gezeigt, wie die Herkunftsfamilie zur Genesung beiträgt, wie eine Urlaubsreise wohltuend wirkt, wie die Selbsthilfeszene positiv verstärkt, wie eine Wiedereingliederung auf einer Teilzeitstelle zu gelingen scheint, wie betreutes Einzelwohnen die Wiederertüchtigung fördert. Es hat also ein gutes Ende, aber es bleibt eine Geschichte ohne Happy End. Hier tut die Autorin, was literarische Autoren von Weltruf tun, sie deutet nur an und sie vermeidet Hollywoodklischees. Konrad, die in Frankfurt als Schriftstellerin lebt und darüberhinaus wirkt, hat mit der Wiederveröffentlichung des Buches den richtigen Schritt getan. Denn es lohnt sich diesen Roman zu lesen und empathisch mitzugehen, wenn die Autorin für uns Identifikationsangebote macht. Die Leser werden danach mehr Einfühlungsvermögen haben und dem Credo folgen „Lassen Sie sich von Ihrer Diagnose nicht verrückt machen.“ (S. 132)
Jan Michaelis
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024