Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
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Psychiatrie Verlag

Vater Unser

Das blutrote und purpurfarbene Buchcover vom Psychiatrieroman »Vater Unser« der österreichischen Schriftstellerin Angela Lehner schreit einen förmlich an und hat etwas von einer Blutspur, die vor einem fröhlichen Lesevergnügen zu warnen scheint. Es geht um die Verstrickungen einer österreichischen Familie aus der Kärntner Provinz und die Abrechnung mit dem engen und überfordernden Feld des Gesunden, Kirchengebundenen.

Dies erzählt aus der Perspektive der durchgeknallten Tochter Eva Gruber, die auch die Ich-Erzählerin ist. Eva wurde mit Polizeiaufwand ins Wiener Otto-Wagner-Spital eingeliefert, dem vormals berühmt-berüchtigten Wiener Steinhof, weil sie behauptet hatte, eine Kindergartengruppe erschossen zu haben. Erzählt wird in drei Akten: Der Vater. Der Sohn. Der Heilige Geist. Topos ist der Vater, die katholische Vergangenheit, der Bruder und der Wahn, mit anderen Worten geht es um Lügen, Leerstellen und falsche Sicherheiten.

Die ungewöhnlich fulminante und intensive Erzählung erinnert an den Berserker-Roman von Thomas Melle (»Die Welt im Rücken«), nur ist hier die Autorin psychiatrieunverdächtig, ihre Erzählung fiktiv und Beweis dafür, dass weiblicher Wahnsinn keine gezähmte Introspektion sein muss. »Thelma und Louise« lassen grüßen.

Der Faszination des Buches muss wohl auch der Burgtheater-Schauspieler und Schriftsteller Joachim Meyerhoff erlegen sein, der bereits vor Jahren mit seinem amüsanten Psychiatrieroman »Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war« Furore machte, den er aus der Perspektive des Sohnes eines Psychiaters schrieb. Die Autorin Lehner muss Meyerhoff erfolgreich als Erstleser geworben haben, denn seine Lesequintessenz findet sich bereits werbewirksam auf dem Buchrücken: »Was für ein Debüt! Immerzu möchte man diese Eva gleichzeitig würgen und küssen – sie geht mir nicht mehr aus dem Kopf.«

»Vater Unser« ist bewusst voller Ungereimtheiten. Diagnosen gibt es keine. Lehner nennt die Dinge nicht beim Namen. Mit Klischees wird gespielt. Die erzählte Geschichte ist Evas Vexierspiel. Eva reizt zum Lachen, aber auch zu Distanz, wenn sie zu gemein agiert. Dann wieder muss man sie lieben für ihren bösen Blick: »Morgen ist ein neuer Tag, den man zugrunderichten kann.«

In den Gesprächen mit dem Arzt geht es auch um Evas Kindheit in einer erzkatholischen Kärntner Dorfidylle und die Demütigungen durch den Pfarrer. Eva wurde von Lehrern im Unterricht geschlagen, weil sie das Vater Unser nicht konnte und sie eben so viel Angst hatte, es nicht zu können, dass sie vergaß, dass sie es doch längst auswendig konnte. Ihren behandelnden Arzt Dr. Korb nennt Eva gewollt respektlos einfach Korb. Sie mag es, ihm ihre unorthodoxen Meinungen kundzutun: »Man würde ja denken, dass so ein Psychiater einmal ein Gespräch anstößt, um die geistige Genesung voranzutreiben. Man würde denken, dass er ein bisschen was in die Vorbereitung investiert.«

Hinter dem lakonischen Witz, der Lehners Roman durchzieht, tun sich bald Abgründe auf. Eva führt alle in die Irre. Sie weiß alles, sie kriegt alles, sie durchschaut jeden. Evas magersüchtiger jüngerer Bruder Bernhard ist ebenfalls am Steinhof eingeliefert, depressiv, er meidet die Schwester, die dennoch immer wieder Kontakt zu ihm sucht.

Rückblicke aus der Erzählgegenwart in die Vergangenheit einer Kärntner Kindheit zeigen den Vater als kettenrauchenden Verschweiger, der in seinem Zimmer einen Altar hat, einen Rosenkranz und ein gerahmtes Bild von Jörg Haider. Was genau ist in der Kindheit vorgefallen, das die Kinder dermaßen traumatisiert hat? Familie ist ein Basar, auf dem Schuld gegen Handlungen und Handlungen gegen Schuld getauscht werden. Familie definiert, wer man war, nun ist, und wer man sein wird. Die Irritationen lösen sich nicht auf. Ein angeblich Lebender ist lange tot, ein angeblich Toter lebt. Eva Gruber führt den Leser mutwillig aufs Glatteis.

Dass man im Sog von Eva Grubers Perspektive bleibt, ist das Glück dieses Debüts, das eine gelungene Mischung aus menschlicher Tragödie und Situationskomik ist und nebenbei auch eine erfrischende Persiflage therapeutischer Konventionen.

Brigitte Siebrasse in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 17.04.2024