Dies wird keine normale Rezension, fürchte ich, denn ich frage mich immer noch, wieso ich dieses Buch eigentlich von vorne bis hinten mit großem Interesse und nicht nachlassender Spannung durchgelesen habe. (Na ja, bis auf wenige Teile, bei denen mir die andauernde Serie von Ver-rücktheiten aus beruflicher Praxis sehr bekannt vorkam und mich kurzfristig aus der Spannung entließ.) War es womöglich Sensationslust? Etwa in dem Sinne, wie der Psychiater Alexander Döblin 1914 formulierte: »Man kann die Neugier eines Laien vielleicht mit nichts so sehr aufstacheln, als mit Erzählungen aus der Irrenanstalt. Für wenige Dinge findet man allgemein eine so unerschöpfliche Teilnahme.« [2]
Vermutlich bleibt man ja als sogenannter Profi der psychotischen Innenund Erlebnisperspektive gegenüber immer ein Laie. In diesem biografischen Bericht von Thomas Melle über seine manisch depressive Erkrankung wird allerdings kaum etwas über »Irrenanstalten« erzählt, sondern vornehmlich über all das geschrieben, was er manisch und paranoid in seiner sozialen Umgebung anrichtete und damit die bisherigen Kontinuitäten seines Lebens fast zerstörte. Ich sage fast, denn Thomas Melle ist Schriftsteller aus tiefster Notwendigkeit und es gelingt ihm trotz Manie und zwischenzeitlicher seelischer Finsternis und Leere – genannt Depression – manche seiner Werke durch das seelische und soziale Chaos hindurch zu retten.
Der Kontinuität als Schriftsteller dient auch dieser autobiografische, sprachlich glasklar, messerscharf, zeitweilig selbstkritisch und selbstironisch formulierte Bericht. Und das ist es. Man hat es hier mit Dichtung, Verdichtung zu tun. Deshalb habe ich dieses Buch beteiligt, erschreckt und staunend durchgelesen. Und: Diese Literatur geht den psychiatrischen Betrieb allerdings etwas an. Wen z. B. bisweilen das Gefühl beschleicht, dass etwas fehlt bei dem augenblicklichen, in der Psychiatrie vorherrschenden Recovery- Empowerment-Hoffnungs-Boom, wen befremdet, dass zu schnell an den bei schweren Psychosen auch immer aufbrechenden Abgründen vorbeigehuscht wird, der findet bei Thomas Melle eine sehr realistische Sicht, einen schmerzhaften Blick in Abgründe hinein.
Nach mehrfachen manischdepressiven Höllenfahrten gewinnt der Autor allmählich eine immer noch fragile Stabilität zwischen der Skylla lähmender Medikation und der Charybdis des misstrauischen Sich-selbst-Belauerns, ob vielleicht dieser oder jener euphorische Impuls wieder in eine manische Raserei umschlagen könnte, eine Stabilität, die mehr dem lebensrettenden Durchhalten einer Freundin (und anderer Freunde) als den Künsten des psychiatrischen Systems zu verdanken ist. »Nur nicht zu glücklich sein! Nur der Trauer nicht verfallen. Es war ein Leben mit angezogener Handbremse. Ich konnte mich zwar wieder konzentrieren, schmiedete neue Pläne, trotzte dem Stillstand ein Buch ab. Aber ein vollständiger Mensch war ich nicht mehr und würde es nie wieder sein. Ich gesundete, aber ich blieb krank.«
Das ist nicht das letzte Wort des Autors weder zum Leben noch zum Schreiben. In einem Interview [3] sagt Melle: »Es ist alles offen gerade. Leben wie Schreiben. Ich denke, dass ich ein paar Ketten auf beiden Seiten abgesprengt habe, Ketten, die mich gefesselt und beschäftigt haben. Es ist ein Befreiungsschlag. Selbst wenn das ein Klischee sein sollte. Sich frei schreiben und atmen, darum geht es.« Ich hoffe auf weitere Veröffentlichungen dieses Autors.
[1] Mit »Die Welt im Rücken« wurde Thomas Melle 2016 zum zweiten Mal für den Deutschen Buchpreis nominiert. (Er stand auf der Shortlist der sechs besten Autoren.) 2011 stand sein Romandebüt »Sickster« auf der zwanzig Titel umfassenden Longlist. 2014 kam er mit »3000 Euro«, einer rasanten Liebesgeschichte um Geld oder Leben, auf die Shortlist.
[2] Alfred Döblin: Kleine Schriften 1, Olten 1985, S. 173.
[3] Tagesspiegel 17.1016 www.tagesspiegel.de/kultur/thomas-melle-im-gespraech-ich-bin-nicht-der-maniker-der-nation
Renate Schernus in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 17.04.2024