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Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Neben der Spur: Wenn die Psychose die soziale Existenz vernichtet

Es gibt leider nur wenige Bücher mit psychiatrischem Inhalt, die mir wie eine Verdichtung des großartigen Gedankens von Michel Foucault erscheinen: »Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und auch anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen und Weiterdenken unentbehrlich ist.« Der Autorin Christiane Wirtz ist dies mit ihrem Bericht »Neben der Spur« geglückt, auch wenn bei oberflächlicher Betrachtung dieses gerade erschienene Buch wie die Geschichte einer Verliererin wirkt, die anhand ihrer auffälligen psychiatrischen Erkrankung die Zerstörung ihrer beruflichen Karriere sowie ihrer sozialen Kontakte beschreibt.

Christiane Wirtz schafft es auf bewundernswerte Weise, die Radikalität ihrer Krankheit paritätisch zu nutzen und Stärke aus ihrem tiefen Fall zu ziehen. Sie mobilisiert all ihre Kräfte, sich mit ihrer Krankheit auseinanderzusetzen, sich über sie zu informieren und konstruktive, vorbildliche und erfolgreiche Gleichgesinnte in der Gegenwart zu suchen und zu finden wie z.B. Dorothea Buck und Thomas Melle.

Ein Grund, der es der Autorin ermöglicht, die Erkrankung konstruktiv zu wenden, mag ihrem bürgerlichen Background geschuldet sein. Sie hatte vor ihren Krisen gesellschaftlich gut funktioniert, hatte studiert, arbeitete als Journalistin und verdiente gut. Als sie durch ihre Psychosen Job und Eigentumswohnung verlor und sich hoch verschuldete, gibt sie einfach nicht auf. Sie erträgt ihre Scham und ihre depressiven Anwandlungen. Der alte soziale Ehrgeiz kommt zurück und setzt sich das Ziel, die Mauern der Vorurteile einzurennen und ihre eigene Geschichte zu erzählen. Wie sie das macht, das ist ungewöhnlich – beispielhaft und anrührend und verdient Bewunderung – und hoffentlich viele Leserinnen und Leser.

Um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, entwirft sie ein sehr mutiges Setting: Sie sucht ihre alten »Sparringspartner« aus ihren verrückten Zeiten auf, darunter auch ihre Eltern, um aus diesen Gesprächen über sich zu lernen und zu erfahren, wie sie wahrgenommen wurde und wie ihr Verhalten auf diese gewirkt hat. Sie entschuldigt sich ganz selbstverständlich bei ihnen und trifft damit auf viel Empathie.

Christiane Wirtz ist in dieser Zeit der Krise 47 Jahre alt. Sie akzeptiert ihre Diagnose Schizophrenie, ohne die Psychiatrie zu hassen oder ohne sie zu glorifizieren. Sie ist realistisch genug, ihre Pillen zu schlucken, denn sie weiß, dass die Pillen in Extremsituationen Schlimmeres verhindern helfen.

Ihre gesellschaftlichen Auffälligkeiten beschreibt die Autorin als Teil des großen Kampfes mit sich selbst und leugnet nicht, dass ihr oft bizarres Verhalten »neben der Spur« ist, nicht im Lot, nicht im Durchschnitt, nicht in der Gesundheit, nicht im Maß und nicht in der Welt und dass sie so angesehen werden muss. Sie weiß, dass ihre Welt, wenn sie irre ist, eben nur die ihre ist. Allerdings ist sie informiert genug, das Schizophrenie-Unheilbarkeits-Dogma für fragwürdig zu halten.

Christiane Wirtz' Fähigkeit, der Krankheit mit offenem Visier zu begegnen und um Verständnis für Menschen zu werben, die Psychosen erleiden, ist ein schwerer Gang, den sie freimütig und selbstbewusst geht.

Brigitte Siebrasse in Psychosoziale Umschau

Letzte Aktualisierung: 17.04.2024