Nach wie vor rekurriert gefühlt fast jede Publikation zur Lage und Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen auf die Enquete von 1975. Seit 2006 wird zweitens im gleichen Atemzug die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) als Maßstab aufgerufen. Derzeit folgt drittens fast unvermeidlich der Hinweis auf das Bundesteilhabegesetz (BTHG), mit dem nun aber endlich die Anforderungen der UN-BRK erfüllt und die letzten Schandflecken der Anstaltspsychiatrie beseitigt werden sollen.
Die vorliegende Vierteljahresschrift des Deutschen Vereins setzt sich mit der Frage auseinander, wie es gegenwärtig um die Inklusion von Menschen mit psychischen Erkrankungen bestellt ist: Ist immer noch Ausschluss, oder gibt es schon Teilhabe? Das BTHG sei dazu da, »Zugänge aus der Grundsicherung für Arbeitssuchende und der gesetzlichen Rentenversicherung in die Eingliederungshilfe zu verringern«, erläutert die damalige BMAS-Staatssekretärin Gabriele Lösekrug-Möller im Editorial. Um diesen Zielen näher zu kommen, fördere das BMAS in den kommenden fünf Jahren mit einer Milliarde Euro Modellvorhaben, die uns – vor allem aber Menschen mit Psychiatrieerfahrung – sozialrechtliche Grundprinzipien wie »Prävention vor Rehabilitation« und »Rehabilitation vor Rente« näher bringen sollen.
Sinnvollerweise widmet sich das Heft in der ersten Hälfte einer Bestandsaufnahme, um im zweiten Teil einige Lösungsansätze im Sinne von »Good-practice-Beispielen« vorzuschlagen. Erwartungsgemäß fällt der Blick auf Vergangenheit und Gegenwart eher ernüchternd aus. Hasso Klimitz rafft 42 Jahre Reformbemühungen auf drei Seiten zusammen. Er findet an den aktuellen Finanzierungsgesetzen immerhin die Möglichkeit der stationsäquivalenten Akutbehandlung (Home Treatment) lobenswert. Hans Joachim Salize prangert Versorgungslücken und gravierende Mängel bei der Verteilungsgerechtigkeit psychiatrischer Ressourcen an. Besonders benachteiligt seien gegenwärtig Asylsuchende und Wohnungslose. Eine der Ursachen sei nach wie vor die Versäulung der Sozialgesetzgebung: »Wenig praxisgerechte Vergütungssysteme und einflussreiche Selbstverwaltungsstrukturen wie die kassenärztlichen Vereinigungen tragen zu einem vielschichtigen und gleichzeitig starren Finanzierungssystem mit hochselektiven Zuständigkeits- und Verantwortungsbereichen bei.« (S. 13)
Yvonne Kahl vom Landschaftsverband Rheinland hat Nutzerinnen sozialpsychiatrischer Angebote befragt und kommt zu dem Schluss, dass man niemanden fürsorglich-fremdbestimmt »beteilhaben« könne. Sozialpsychiatrie müsse mehr auf die Öffnung des Sozialraums bzw. der Gesellschaft fokussieren, um Teilhabe zu ermöglichen. In der ihr eigenen unmissverständlichen Art prangert Margret Osterfeld die riesige Diskrepanz zwischen Gesetzesvorgabe (UN-BRK) und Versorgungsrealität an. Insbesondere seien Zwangsmaßnahmen gegen psychisch Kranke auf der Basis von PsychKG und Betreuungsrecht vielfach schlicht menschenrechts- und gesetzeswidrig.
Mit dem vielleicht wichtigsten, jedenfalls sehr konstruktiven Beitrag von Ingmar Steinhart endet der erste Teil. Auch Steinhart lässt zwar kaum ein gutes Haar an der aktuellen Versorgungsrealität. Er erkennt im neuen Bundesteilhabegesetz aber immerhin Potenzial für ein »Inklusions- und Teilhabe-Stärkungsgesetz« (S. 42). Gleichzeitig warnt er davor, jede Verbesserung kostenneutral, also zum Nulltarif zu erwarten. Vielmehr müsse in professionelles Personal investiert werden, müssten Anreizsysteme geschaffen und müsse »frisches Geld« zur Herstellung vollumfänglicher Teilhabe in die Hand genommen werden. Steinhart appelliert und ermutigt, »langwierige Diskussionen und Grabenkämpfe abzukürzen und baldmöglichst mit konkreten Umsetzungsschritten und Innovationen zu beginnen.« (S. 50)
Im zweiten, nicht minder lesenswerten Teil werden Forschungsarbeiten zur Versorgungssituation bestimmter Zielgruppen vorgestellt, und es werden Beispiele guter Praxis gegeben. Hier kommen Ex-In-Projekte zur Sprache, aber auch das gute alte »Hotel Plus« wird einmal mehr gewürdigt. Fazit: ein kompaktes, preiswertes Bändchen zum Stand der Dinge in Sachen Teilhabe.
Martin Osinski in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024