Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
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Psychiatrie Verlag

Macht der Kapitalismus depressiv?

Im nur noch schwer durchdringbaren Depressionsdschungel steht man seit einigen Jahren allerorts vor Berichten angeblich wachsender Erkrankungszahlen. Ärzte, Psychotherapeuten, aber auch Krankenkassen, andere Sozialversicherungsträger und Medien schildern diesen Anstieg. Und eine interessierte Öffentlichkeit hat es inzwischen breitflächig verinnerlicht: Depression ist die neue Volkskrankheit!

Der vor allem als Entwicklungspsychologe bekannte Martin Dornes, studierter Soziologe und psychoanalytisch ausgebildet, stellt dem nun in einem kleinen, aber schwergewichtigen Büchlein unter dem markanten Titel »Macht der Kapitalismus depressiv?« eine vorwiegend empirisch orientierte Untersuchung »über seelische Gesundheit und Krankheit in modernen Gesellschaften« entgegen. Sein Ergebnis fällt eindeutig negativ aus: Der gebetsmühlenartig berichtete Anstieg von Depression stimmt laut epidemiologischer Studien (z.B. des Robert-Koch-Instituts 2012) nicht.

Was in der Tat anwächst, sind die sogenannten Diagnoseprävalenzen, also die von Ärzten und Psychotherapeuten diagnostizierten Erkrankungsfälle. Ebenso über Depressionen begründete Frühverrentungen. Aber eben nicht die Realprävalenzen, sprich die Zahl der wirklichen Depressionserkrankungen. Diese seien seit Jahren stabil, wenn nicht sogar rückläufig.

Wer das liest, protestiert bei entsprechender Voreinstellung zunächst heftig – oder atmet erleichtert auf. Der ganze Hype um die Depression also doch vornehmlich ein Artefakt? Die vielfach genannten Horrorzahlen falsch und das Problem weitaus geringer? Am Ende von Kapitel 1 taucht dies schon als Ergebnis der Dornes-Untersuchung auf. Und man kann hier nur zustimmen, ist aber doch auch irritiert über die bereits spürbare Zurückweisung eines Zusammenhangs der Depressionszahlen mit gesellschaftlichen Entwicklungen. Die von ihm dargestellten Befunde legen den Schluss nahe, »dass die zeitgenössischen Subjekte den Veränderungen in Familie und Arbeit überwiegend gewachsen sind«. Depressionen nehmen eben real nicht zu!

Was ist aber jetzt mit all den Zahlen, die anderes berichten? Dornes bestreitet ja keineswegs, dass heute immer mehr Menschen wegen Depressionen krankgeschrieben oder berentet werden. Aber er interpretiert diese Zahlen anders: nicht als steigende Krankheitshäufigkeiten, sondern als Ausdruck gewachsener Sensibilitäten. Wir alle, inklusive der Ärzte, registrierten psychische Symptome, die früher unbeachtet blieben, heute doch weitaus empfindsamer. Zusammen mit der erfreulichen Entstigmatisierung von psychischen Krankheiten treibe das die Diagnosezahlen nach oben.

Um diese durchaus plausible Erklärung abzuschließen, bedarf es aber noch eines Dritten: der Veränderung in den zugrunde gelegten Diagnosesystemen. So ist im Diagnostischen Manual (DSM) seit der Erstfassung von 1952 der Umfang psychischer Krankheiten von 106 über 265 (im DSM-III von 1980) auf heute 400 Krankheiten (im aktuellen DSM-5) angewachsen. Und speziell für die Depressionen haben sich massive Veränderungen dadurch ergeben, dass diagnoserelevante Symptome heute nur noch für 14 Tage vorliegen müssen, gegenüber vormals vier Wochen bzw. einem Jahr (gemäß DSM-IV bzw. -III).

Das heißt aber folgerichtig, dass Befindlichkeitsstörungen und subklinische Symptome, die früher durchs Diagnostikraster gefallen sind, heutzutage viel leichterals Depression erfasst werden. Demgemäß »verschwimmt die Grenze zwischen gesund und krank« und es kommt, wie es der US-Psychiater Allen Frances beklagte, zu einer »Pathologisierung der Normalität«. Dornes hält dem eine »Normalisierung der Pathologie« entgegen! Und dass Dornes dies klaglos hinnimmt – er spricht hinsichtlich der Inflation der Diagnosen sogar von einem »entspannenden Effekt« – ist das Ärgerliche an dem an sich hoch lesenswerten Buch.

Erst im Schlusskapitel bilanziert er, dass dadurch »die Ressourcen für die Behandlung wirklich bzw. schwer Kranker verknappt werden«. Dass darüber hinaus bei solch einer Verschiebung der Diagnostik wir alle psychisch pathologisiert sind, kritisiert Dornes unverständlicherweise ebenso wenig wie das reduktionistische neurobiologische Depressionsbild der heutigen Psychiatrie. Letzteres kommt im Buch gar nicht vor! Der Vorwurf der »Unterkomplexität« trifft stattdessen einseitig gesellschaftskritische Krankheitstheorien, die Dornes allesamt als nicht belegt und damit rein hypothetisch zurückweist. Allenfalls den Schluss, »dass soziokulturelle Wandlungsprozesse sehr locker mit Veränderungen in der psychischen Erkrankungshäufigkeit assoziiert sind«, lässt er zu.

So unbefriedigend diese gesellschaftsbezogenen Antworten erscheinen, ist dem Autor doch für die große Klarheit seiner epidemiologischen Argumentation hinsichtlich des gefühlten »Hypes um die kranke Seele« zu danken, was wesentlich zu einer Entdramatisierung der Depressionsdebatte beiträgt.

Jürgen Karres in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024