Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Über den Zwang in der Psychiatrie

Dirk Richter beginnt sein Buch mit einem Paukenschlag: »Wa­rum Zwang in der psychiatrischen Versorgung nicht länger ge­rechtfertigt werden kann.« (S. 7) Als Begründung führt der Pro­fessor für psychiatrische Rehabilitationsforschung an der Berner Fachhochschule an, dass psychische Erkrankungen nicht klar von gesunden Zuständen abgrenzbar seien und deshalb keine Grundlage für eine Zwangseinweisung böten. Zwangsmaßnah­men würden zudem nicht unbedingt dem Wohle des Patienten dienen. Obwohl die UN­Behindertenkonvention Zwangsmaß­nahmen als Verletzung von Menschenrechten einstuft, verbin­de die klinische Sicht hingegen psychische Störungen oftmals mit eingeschränkter Urteilskraft, welche Zwangsmaßnahmen rechtfertige.

Richter fängt bei der Durchsetzung von Menschenrechten in der Psychiatrie bereits bei der Sprache und den Begrifflichkei­ten an. Jemanden als »psychisch krank« zu bezeichnen, der sich selbst nicht so empfindet, diskriminiere Menschen. Er setzt in seinem Buch auf den Begriff »Menschen mit psychischen Pro­blemen«, um Betroffene nicht auf das »psychisch krank sein« zu reduzieren. Auch wenn Diagnosen zur Abrechnung bei Kran­kenkassen bis dato Verwendung finden müssen, solle in der Psychiatrie von »psychosozialen Problemen« die Rede sein und das auch nur, wenn der Mensch leidet. Psychosoziale Störungen seien soziokulturelle Konstruktionen. Statt Zwang brauchen wir laut Richter ein neues Krankheitskonzept: psychosoziale Unter­stützung ohne Zwang. Das bedeutet: keine Behandlung ohne Zustimmung.

Mit einem Blick auf die Psychiatriegeschichte und die recht­liche Situation konstatiert Richter, dass Zwang, der in vielen Bundesländern auch als Prävention von Suiziden gerechtfertigt wird, bis in die Gegenwart hinein der Aufrechterhaltung der öf­fentlichen Ordnung dient. Den Zwangseingewiesenen werden ihre Rechte dabei entzogen. Obwohl die deutsche Reformpsy­chiatrie auf das Konzept »Verhandeln statt behandeln« mit dem Ziel der Gleichstellung von Menschen mit psychischen und körperlichen Erkrankungen setzt (deshalb entstanden psychiat­rische Stationen in Allgemeinkrankenhäusern), sah der Ethikrat noch Ende des letzten Jahrhunderts im Zwang eine Maßnahme zum Wohle des Patienten. Außerdem könne er der Sicherheit anderer und der eigenen Person dienen, auch wenn es bei Be­troffenen in Einzelfällen zu Angst und posttraumatischen Be­lastungen führt.

Richter entwickelt in seinem Buch ein neues Verständnis von »Krankheit«. Im Gegensatz zu körperlichen Erkrankungen gibt es bei psychischen Erkrankungen keine klare Grenze zwischen »gesund« und »krank«. Ein zweiter Unterschied besteht darin, dass körperlichen Erkrankungen, anders als psychische, nicht zu Zwangsmaßnahmen führen. In Richters »Spektrenmodell« kann ausschließlich der betroffene Mensch selbst entscheiden, ob er an einer psychischen Störung leidet und ob er behandelt werden will. Diesem Modell folgend würde niemand mehr ge­gen seinen Willen in der Psychiatrie behandelt werden.

Die Sozialpsychiatrie der Zukunft muss die Menschenrechte umsetzen und würde, mit Richters Modell, über Personenzen­trierung, die Zwang nicht ausschließt, hinausgehen, hin zur »Personensteuerung«, in der ausschließlich die betroffene Per­son über die Behandlung entscheidet. Menschen mit Fremd­gefährdung wären juristisch zu behandeln. Die Zukunft der Psychiatrie bedeutet: nicht ohne uns über uns. Auch das Sozial­recht sollte dahingehend verändert werden, dass der Zugang zu Leistungen nicht von Diagnosen abhängig ist. »Psychische Krankheit« tauge als soziokulturelle Auffassung nicht zur Legiti­mation von Zwangsmaßnahmen in der Psychiatrie.

Richters Ausführungen sind ein Aufruf zu mehr Menschlichkeit und zur Einhaltung der Menschenrechte in der Psychiatrie. Ein lesenswertes Buch.

Jürgen Blume in Psychosoziale Umschau

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024