Die Krise der Psychiatrie ist in all ihren Facetten gut bekannt: Die traditionellen Krankheitskategorien gelten als überholt und die psychiatrische Forschung erweist sich allzu oft als irrelevant für die Praxis – und Fachpersonen wenden sich als Folge zunehmend von der Psychiatrie als Arbeitsbereich ab. Als Hauptgrund dieser Entwicklung identifiziert Thomas Fuchs in seinem neuen Buch das Fehlen einer gemeinsamen theoretischen Grundlage zur Beschreibung, Erklärung und Behandlung psychischer Erkrankungen. Denn, wie Fuchs in seiner Bestandsaufnahme zeigt, kann sowohl ein biologisches Verständnis psychischer Erkrankungen als auch das klassische biopsychosoziale Modell nicht mehr überzeugen, u. a. weil es phänomenologische und systemtheoretische Ansätze vernachlässigt.
Daran anschließend entwickelt der Autor Schritt für Schritt ein integratives ökologisches Paradigma, das phänomenologische, neurobiologische, systemtheoretische und sozialpsychiatrische Ansätze verbindet. Hier wird die Psychiatrie als »Beziehungsmedizin« definiert, d. h. als Wissenschaft und therapeutische Praxis der biologischen, psychischen und sozialen Beziehungen. Als Grundgerüst des ökologischen Paradigmas dient das Konzept des Embodiment im sog. »5E«Ansatz, der Bewusstsein als verkörpert (embodied), in Handlungsvollzüge eingebettet (enactive), ausgedehnt in die Lebenswelt (extended), hierin eingebettet (embedded) und unauflöslich verknüpft mit Emotionen (emotive) betrachtet. Wie Thomas Fuchs nachvollziehbar entwickelt, könnte mit dieser Konzeption auch der Dualismus zwischen Psyche und Körper überwunden werden, ohne dabei reduktionistisch zu sein: Denn in der handelnden Person verbindet sich der Doppelaspekt der (erstpersonalen) Subjektivität und des (drittpersonalen) physikalischen Körpers zu einer verkörperten Subjektivität, die dann verändernd auf Bewusstseinsprozesse und damit »ursächlich« wirksam sein kann. Fuchs entwirft den Organismus hierbei als ein hierarchisch gestaffeltes System von der Ebene der Atome bis zur Person, der wiederum in soziale Bezüge von der Partnerschaft zur Gesellschaft/Kultur eingebettet ist. Zwischen diesen Ebenen besteht eine wechselseitige (zirkuläre) vertikale Kausalität. Dies bedeutet, dass übergeordnete Systeme einerseits durch ihre Komponenten strukturiert werden und sich andererseits aber auch durch ihre Komponenten realisieren. Horizontale Kausalität ergibt sich durch die Wechselwirkung zwischen der Person und ihrer Umwelt. Besonders bedeutsam erscheinen hier die sozialen Bedürfnisse, die im gemeinsamen Lebensvollzug durch Zwischenleiblichkeit, d. h. durch gegenseitige empathische Bezugnahme, befriedigt werden und andererseits auch persönliche Potentiale erweitern.
Innerhalb dieses Modells werden psychische Störungen als Störungen des verkörperten Selbst in Beziehung verständlich, entweder auf der Ebene der vertikalen Prozesse und/oder im Sinne von horizontale Regulationsstörungen, die in den Beziehungen zur Umwelt oder zu anderen auftreten. Therapie lässt sich dementsprechend als Einwirkungen auf diese zirkulären Prozesse verstehen, die immer auch Auswirkungen auf andere Ebenen haben. In dieser polyperspektiven Sichtweise sind grundsätzlich verschiedene therapeutische Wege gangbar, was die interdisziplinäre Zusammenarbeit vereinfacht.
Das neue Werk von Thomas Fuchs wird zweifellos viele interessierte Lesende finden. Mit der »Psychiatrie als Beziehungsmedizin« liefert Fuchs einen innovativen Beitrag zur Neugestaltung der psychiatrischen Wissenschaft und Praxis. Seine interdisziplinäre Herangehensweise und die Betonung von Beziehungen bieten einen vielversprechenden Ansatzpunkt für die Weiterentwicklung der Psychiatrie im 21. Jahrhundert. Besonders angetan werden Lesende sein, die sich fragen, wie man Phänomenologie, die »5E«Konzeption und systemtheoretische Vorstellungen miteinander theoretisch und im Hinblick auf die klinische Arbeit miteinander verbinden kann. Lesenswert sind auch die philosophischen Gedanken zur Wirksamkeit verkörperter Subjektivität, also wie sich das, was wir den »freien Willen« nennen, in verkörperter Subjektivität vollziehen kann.
Thomas Fuchs schlägt mit dem integrativen ökologischen Paradigma eine recht umfassende Konzeption vor, in das sich u. a. biologische, psychologische und soziologische Befunde gut integrieren lassen und das deshalb in viele Richtungen erweiterbar ist. Als Nachteil könnte sich erweisen, dass die Zusammenführung verschiedener Teilmodelle auch die jeweiligen Einschränkungen importiert, z. B. die Schwierigkeit von Verkörperungsansätzen, Funktionen, wie etwa die der Sprache, die im Gehirn eher modular, d. h. in hochspezialisierten Systemen verarbeitet werden, umfassend zu beschreiben. Und schließlich: Ein Paradigma ist nur so erfolgreich, wie es sich auch durchsetzt. Und eine neue Sichtweise lässt sich eben kaum verordnen. Metamodelle werden ja bekanntlich viel zu oft lediglich zitiert und nur allzu selten wirklich rezipiert – ein Schicksal, das auch das von Fuchs zitierte »biopsychosoziale Modell« teilt. Viel häufiger werden Metamodelle als ideologische Munition gegen unliebsame Vorstellungen in Position gebracht. Das liegt vielleicht auch daran, dass wir Metamodelle im Alltag selten zu brauchen scheinen: Modelle werden oft für spezifische Probleme herangezogen und für viele klinische Praktiker scheinen paradigmatische Grundsatzfragen überkomplex und wenig zielführend. Umgekehrt könnten aber gerade Praktiker von der Lektüre dieses Werkes profitieren, um klinische Fragestellungen etwas tiefer und umfassender zu verstehen. Darüber hinaus kann die reflektierende Metaebene auch für Forschende hilfreich sein, die stillschweigenden Voraussetzungen ihrer wissenschaftlichen Zusammenhänge breiter zu reflektieren.
Das Buch ist kein Lehrbuch im eigentlichen Sinn, eher eine präzise Begründung und Herleitung und eines neuen Paradigmas, das – wie Thomas Fuchs freimütig einräumt – weiterer Ausarbeitung und empirischer Rechtfertigung bedarf. Als solches ist es zugänglich geschrieben und durch Beispiele illustriert. Wer über gewisse Vorkenntnisse in den genannten Bereichen verfügt, wird sich bei Lektüre etwas leichter tun. Mithilfe des umfangreichen Sach und Literaturverzeichnis können zusätzliche Hintergrundinformationen aber recht komfortabel selbst recherchiert werden.
Daniel Nischk in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 19.07.2024