Nach über 45-jährigem praktischem Engagement in der Sozialpsychiatrie und intensiver Befassung mit den Theorien und der Geschichte der Psychiatrie möchte ich festhalten, dass ich den Inhalten des Buches »Das kolonialisierte Gehirn und die Wege der Revolte« von Andreas Heinz absolut folgen und der großen Mehrheit der Argumente und Aussagen aus folgenden Gründen nur zustimmen kann.
Erstens: Die sorgfältige und akribische Auseinandersetzung mit den Zusammenhängen von gesellschaftlichen, politischen, kulturellen und sozialen Verhältnissen in ihrer geschichtlichen Abfolge erfolgt durch die Gegenüberstellung von gesellschaftlichen Entwicklungen und Definitionen bzw. Erklärungsversuchen von psychischen Erkrankungen. Beeindruckend sind die Stringenz und die Durchgängigkeit der Vorgehensweise, immer auch in der jeweiligen geschichtlichen Phase kontrastierende Positionen miteinander zu vergleichen und zu diskutieren.
Zweitens: Die Verdeutlichung dieses untrennbaren Zusammenhangs von gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen, Lebensbedingungen und -lagen der Menschen in ihrer Lebenswelt korrespondiert mit der Darstellung der Entstehung von psychiatrischen Theorien in der Abhängigkeit von den jeweiligen gesellschaftlichen (Herrschafts-)Verhältnissen. Besonders eindrücklich zeigt sich dies in der Erörterung der Parallelität von der Kolonialisierung und Abwertung sogenannter »primitiver Völker« und der Abwertung des ebenso als minderwertig betrachteten psychisch kranken Menschen in den psychiatrischen Theorien der damaligen Zeit.
Drittens: Viel zu selten wurde bislang der Zusammenhang von der Entwicklung des menschlichen Gehirns und den vermeintlichen »Theorien« zu höher- und minderwertigen Völkern in den Zeiten des Kolonialismus im sozialpsychiatrischen Diskurs diskutiert. Heinz stellt differenziert und mit vielen Belegen die Analogie heraus, dass hierarchisch angeordnet die älteren Hirnareale die emotionalen Dimensionen des »primitiven Menschen« repräsentieren und die jüngeren Hirnareale die kognitiven, vernünftigen Dimensionen des Zeitalters der vermeintlich vernünftigen kapitalistischen Moderne. Die Theorien zur Kolonialisierung der »primitiven Völker« waren geprägt durch die Zuschreibung von Minderwertigkeit in Verbindung mit der notwendigen Domestizierung ungezügelter Emotionen. In dieser Zeit (Ende des 19. Jahrhunderts) – so arbeitet Heinz heraus – entstanden auch psychiatrische Theorien und Konzepte, die Analogien zwischen der Domestizierung der »ungezügelten Völker« und der Kontrolle und Disziplinierung der Unvernunft (des Wahnsinns) aufweisen.
Viertens: Klar und eindeutig sind die Aussagen zur Einflussnahme sozialer Faktoren (materielle Lage, Statushierarchien, Lebenslagen und Lebensverhältnissen) auf die Entstehung und den Verlauf psychischer Erkrankungen mit Hinweisen auf belastbare Studien.
Fünftens: In jeder geschichtlichen Phase wendet Heinz den Blick auf die Entstehung, die Inhalte und den Verlauf von widerständigen Bewegungen und Revolten wie auch deren Unterdrückung als Gegenpol zur Herrschaft, der Domestizierung und Ausgrenzung von psychisch kranken Menschen.
Sechstens: Auch in den abschließenden Kapiteln ist dies der rote Faden: der Nachweis der Untrennbarkeit von Gesellschaft, Kultur, Lebenswelt und Individuum. Diese Positionierung ist aus meiner Sicht deshalb von Bedeutung, weil positive und konstruktive Entwicklungen herausgestellt werden, z.B. die Entstehung der Selbsthilfebewegungen.
Siebtens: Das Buch stellt eine Einladung zur konstruktiven Diskussion einer Thematik dar, die nicht selten ideologisch einseitig geführt wird. Gegenüber apodiktischen oder gar dogmatischen Positionen überzeugt Heinz durch eine sachliche Herangehensweise sowie durch differenziertes Abwägen unterschiedlicher Positionen, die er jeweils in ihrer Abhängigkeit von gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Entwicklungen betrachtet. Auf der einen Seite steht eine grundsätzliche Kritik an der Bildung von psychiatrischen Theorien und ihrer Praxis, ohne sich jedoch andererseits mit einer antipsychiatrischen Haltung außerhalb der Psychiatrie zu stellen. Durch das ganze Buch zieht sich dabei ein klarer Kompass, der ausgerichtet ist auf den ganzen Menschen in seiner Lebenswelt, an demokratischen Strukturen, an Teilhabe, Gleichberechtigung und sozialer Gerechtigkeit.
Ein Werk, das gerade heute in unsicheren Zeiten, in denen zudem das Risiko einer Entpolitisierung der Sozialpsychiatrie besteht, eigentlich berufsübergreifend von erfahrenen wie von jungen Kollegen und Kolleginnen und Studierenden gelesen werden sollte. Gleichzeitig sollte es auch einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Es ist zwar sicher ein hochkomplexes Fachbuch, aber aufgrund seiner inhaltlichen Aussagen, Haltung und Position nicht nur für Psychiatrieinsider von wichtiger Bedeutung.
Klaus Obert in Soziale Psychiatrie
Hinweis: Eine längere Version dieser Rezension finden Sie auf: www.dgsp-ev.de/veroeffentlichungen/sozialepsychatrie/ rezensionenplus
Letzte Aktualisierung: 31.07.2024