Kann eine Geschichte ohne Happy End ermutigend sein?
Eine Schlüsselszene in dem Buch »Okay, danke, Ciao!« von Katja Hübner ist für mich die mit der Jacke. Als die Ich-Erzählerin den verwahrlosten jungen Mann mal wieder völlig durchnässt auf seiner Bank antrifft, überredet sie ihn, seine Jacke auszuziehen, damit sie sie im nahegelegenen Waschsalon waschen und trocknen kann. Als sie anderthalb Stunden später zurückkommt, ist er völlig außer sich und macht seiner Helferin mit einem geradezu hasserfüllten Blick sogar Angst. Ohne diese äußerste seiner drei Jacken hat er sich offenbar so schutzlos gefühlt, dass es kaum auszuhalten war. Den sauberen, trockenen Parka wird er erstmal nicht wieder anziehen.
Während man die wahre Geschichte der engagierten Frau im Hamburger Schanzenviertel liest, die den psychisch kranken obdachlosen Marc regelmäßig an seiner Bank aufsucht, ihm Essen und Zigaretten bringt und versucht, auch darüber hinaus Hilfe für ihn zu organisieren, muss man immer wieder an den Mythos von Sisyphos denken. Wie schon der Titel signalisiert – »Okay, danke, Ciao!« – ist eine verbale Verständigung mit dem in sich gekehrten jungen Mann nur sehr eingeschränkt möglich. Er lebt über Monate auf einer Hundeweise zwischen Wohnhäusern und Geschäften, Blicken ebenso wie Kälte und Nässe oder Hitze schutzlos preisgegeben und regelmäßig enteignet durch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ordnungsamtes, die Decken und Schlafsäcke einkassieren, weil die nun mal nicht auf eine Wiese gehören.
Wie vorher Katja Hübner lernt nun die Leserin Deutschland aus einer neuen Perspektive kennen. Organisationen, die helfen, z.B. immer wieder Decken und Schlafsäcke ausgeben, Menschen, die der engagierten Frau zu ihrem Durchhaltevermögen gratulieren, aber auch andere, die sich über die Notdurft des Störenfrieds in den Büschen der öffentlichen Anlage mokieren und der Grafikerin vorwerfen, wenn sie ihn dauernd »füttere«, werde er wohl nie verschwinden.
Die Psychiatrie in Hamburg-Eppendorf erscheint aus der unvoreingenommenen Sicht einer besorgten Bürgerin nicht allzu hilfreich. Man sei nicht aufsuchend tätig, der psychisch kranke Mann möge doch herkommen, schreibt man ihr. Von solch einer Initiative ist Marc weit entfernt, und Katja Hübner, die sich kundig macht über Obdachlosigkeit und psychische Erkrankungen, lernt rasch, was die Profis ja bereits wissen: dass nur wenige Menschen mit einer Psychose diese auch als behandlungsbedürftiges Problem erkennen und von sich aus Hilfe in der Psychiatrie suchen.
Wer – wie ich – schon mal ernsthaft überlegt hat, ob man mit den eigenen Ressourcen für einen obdachlosen Menschen nicht den entscheidenden Unterschied machen könnte, legt dieses Buch so schnell nicht mehr aus der Hand. Wie kann man denn helfen, was ist sinnvoll, was kontraproduktiv? Was muss man unter Umständen aushalten? Und was könnte am Ende ein Erfolg sein?
Katja Hübners Geschichte vertreibt eventuell vorhandene romantische Anwandlungen bei ihren Leserinnen und Lesern. Überdeutlich wird, dass man nicht nur tolerant gegenüber Schmutz und Gestank sein muss, auch eine gewisse seelische Robustheit ist von Nöten – vereint jedoch mit Sensibilität und Empathie sowie Beharrlichkeit, wenn man diesen Verletzlichsten in unserer Gesellschaft wirklich helfen will.
Katja Hübner, fest verankert in Beruf und Familie mit Freund und Tochter, schafft das, wohl auch, weil sie echte Zuneigung fühlt zu diesem meist sanften Sohn eines deutschen Vaters und einer indonesischen Mutter, der in jüngeren Jahren als Mitglied einer Band wunderschöne sehnsüchtige Liedzeilen gesungen hat. Weil sie respektvoll bleibt und sich von Misserfolgen wie dem mit der Jacke nicht abschrecken lässt, weil sie sich nicht gekränkt zurückzieht, sondern hartnäckig und offen zugleich bleibt, was ihm wiederum Vertrauen ermöglicht.
Am Ende des Buches lebt Marc aber nicht mehr auf der Wiese. Weil sein Leben dort draußen im eisig-kalten Winter akut gefährdet war, hat die Psychiatrie ihn schließlich doch abgeholt, und er ist sogar freiwillig mitgegangen. Auch Thomas Bock, Leiter der Psychosen-Ambulanz des UKE, hat sich helfend eingeschaltet. Mit der gebührenden Geduld behandelt, kann Marc sich in der Klinik allmählich aus seiner Verkapselung lösen.
Der junge Mann entwickelt Wünsche und Empathie, kann über sich lachen, er besucht Katja Hübner zuhause und geht auch manches aktiv an. Er findet eine Bleibe in einer betreuten Wohneinrichtung, aber ein Anschluss an die Gesellschaft darüber hinaus scheint über seine Kräfte zu gehen. Seiner Begleiterin und Freundin Katja fällt es nicht leicht, das zu akzeptieren. Aber wie sagt Thomas Bock einmal, als sie bei ihm Rat sucht: »Wir können und wir dürfen Menschen nicht in ein Raster zwängen. Aber es ist unsere Aufgabe, wieder Entscheidungsmöglichkeiten zu schaffen.«
Ja, das Buch macht Mut und Hoffnung. Ein einzelner zugewandter Mensch kann der Unterschied sein zwischen Verlorengehen und Sich Wiederfinden. Aber dieser Mensch braucht ein starkes Herz und einen langen Atem.
Cornelia Schäfer in Psychosoziale Umschau
Letzte Aktualisierung: 09.07.2022