Die Krise der Sozialpsychiatrie wird längst beschworen. Meist von engagierten Sozialwissenschaftlern und Psychiatern, die sich im Anschluss an die Psychiatrieenquete darum bemühten, die Psychiatrie an die gesellschaftliche Realität heranzuführen oder mit einem Wort an das Soziale. Sie mussten jedoch erleben, dass das von Ronald Reagan ausgerufene Jahrzehnt des Gehirns die Entwicklung einer sozialpsychiatrischen Theorie jäh bremste und sich die psychiatrische Wissenschaft mit wenigen Ausnahmen ausschließlich mit Hirnforschung beschäftigte.
In der psychiatrischen Praxis etablierte sich gleichwohl eine Versorgungslandschaft, die Angebote für die sogenannten chronisch psychisch Kranken in der Gemeinde entwickelte: Betreutes Wohnen, Kontakt- und Beratungsstellen, Sozial- bzw. Gemeindepsychiatrische Zentren. Diese wurden in erster Linie von der Sozialarbeit getragen und von der sozialpsychiatrischen Ärzteschaft als »komplementäre« Angebote zur stationären Psychiatrie begrüßt. Eine integrative Theorieentwicklung unterblieb jedoch ebenso wie die Erforschung dessen, was in den gemeindepsychiatrischen Angeboten so getrieben wurde. Die psychiatrische Versorgungsforschung mühte sich damit ab, evidenzbasierte Ergebnisse der Klinikbehandlung zu erreichen. Das kürzlich erschienene Update der S3-Leitlinie »Psychosoziale Therapien « konnte sich bei den gemeindepsychiatrischen Angeboten nahezu ausschließlich auf englischsprachige Studien beziehen.
Seit einigen Jahren vollzieht sich eine Entwicklung in der (Sozial-)Psychiatrie, in der die Theorieentwicklung der Sozialpsychiatrie wieder aufgegriffen wird und Überlegungen zur Erforschung der gemeindepsychiatrischen Wirklichkeit angestellt werden. Der Psychiatrie Verlag entfaltet hierzu einige Aktivitäten, wie die Reihe »Anthropologische Psychiatrie« und eine Publikation zur qualitativen Forschung in der Sozialpsychiatrie zeigt. Aber auch aus der gemeindepsychiatrischen Praxis regt sich etwas. Patrick Jung arbeitete als Sozialpädagoge bei einem Leistungserbringer in Erfurt, der ein psychiatrisches Wohnheim auflöste und sich um die Ambulantisierung der Hilfeformen bemühte.
Dabei entdeckte er auf der Suche nach Antworten für praktische Probleme die theoretische und methodische Vielseitigkeit der Soziologie. Mit der in der vorliegenden Publikation veröffentlichten Dissertation im Rahmen der von Bruno Hildenbrand angeregten Forschungspraxis der Klinischen Soziologie suchte er vor allem eine Antwort auf folgende Frage: »Wie kann es sein, dass wir ›personenzentriert‹ arbeiten und gleichzeitig einen Lebensentwurf von psychisch Kranken befeuern, der sich im Wesentlichen unter einer gemeindepsychiatrischen ›Glocke‹ abspielt?« (S. 6)
Um die Frage zu beantworten, ist Jung personenzentriert an die Sache herangegangen und hat mit einem ethnografischen Ansatz Interviews mit drei langjährig psychisch erkrankten Personen in deren Sozialraum geführt, die er sequenzanalytisch interpretiert und mit teilnehmenden Beobachtungen angereichert hat. Die Fallrekonstruktionen verfolgen die Bildungsgeschichten von einem Mann und zwei Frauen, die in unterschiedlicher Form zu dem Etikett »chronisch psychische Erkrankung« führten und in dem institutionellen Kontext »Betreutes Wohnen« Unterstützung erhalten.
Die theoretische Basis wird in dem ersten Kapitel unter der Überschrift: »Soziale und anthropologische Psychiatrie« entfaltet, in dem unter anderem die gegenwärtige Sprachlosigkeit zwischen Soziologie und Psychiatrie thematisiert und die Reduktion sozialwissenschaftlicher Ansätze in der Psychiatrie auf Versorgungsforschung, Gesundheitsökonomie und der Sozialen Arbeit beklagt wird. Die anthropologische Fundierung der sozialen Psychiatrie wird als verpasste Chance herausgearbeitet und auf dieser Basis das anthropologische Krankheitsverständnis insbesondere mit Bezug auf Wolfgang Blankenburg und dem Begriff der Begegnung eingeführt. Bedauerlich ist, dass der Autor im folgenden methodologischen Kapitel die sozialwissenschaftliche Weiterentwicklung des Blankenburgschen Ansatzes nicht näher ausführt.
Den Hauptteil bilden mit siebzig Seiten die drei Fallrekonstruktionen, die einen eindrucksvollen Einblick darin geben, was im anschließenden Kapitel als sich »selbst und der Welt fremd« werden bezeichnet wird. Die Problemlagen sind sehr unterschiedlich. Während es im ersten Fall um den Verlust des sogenannten roten Fadens geht und der Betroffene ein hohes Bedürfnis nach externer Strukturierung hat, kann die Person im zweiten Fall »auf eigene Möglichkeiten zurückgreifen (...) um sich nicht fremdstrukturieren zu lassen« (S. 76), sodass sie im »Spagat zwischen Angenommen-Sein und Betreuung in der persönlichen Beziehung« (S. 88) Schritt für Schritt ins alltägliche Leben zurückfindet. Im dritten Fall ist es die »Bindungsmöglichkeit « zu einer Mitarbeiterin, die der Betroffenen ermöglicht, ihren freiheitsliebenden Lebensstil mit den Zwängen ihrer Arbeitswelt in Einklang zu bringen.
Die theoretische Klammer zwischen den drei unterschiedlichen Fällen sieht der Autor in dem »institutionellen Rahmen, den die ambulanten Einrichtungen in der Gemeindepsychiatrie ihren Adressaten vorhalten « (S. 124). Sie seien gerade für Personen, die sich und ihrer Welt fremd geworden sind, wichtige Pfeiler der Orientierung und werden damit eher im Gegensatz zur »totalen Institution« begriffen, unter die Goffman auch die psychiatrischen Anstalten subsumiert hat.
Der von Jung verwendete anthropologische Begriff steht damit auch nicht im Gegensatz zu dem personenzentrierten Ansatz, der in der Sozialpsychiatrie als Gegenstück zum institutionszentrierten Ansatz verwendet wird. Als ein Ergebnis auf die Forschungsfrage wird das am Ende der Untersuchung nochmals klar herausgestellt: »Das Personal leistet für seine Klienten existenzielle Arbeit und bietet ihnen damit eine lebensweltliche Verankerung und eine Erweiterung ihrer Handlungsspielräume an.« (S. 153)
Warum ist jedoch von strukturbildenden Orten die Rede? Sind es nicht eigentlich die strukturbildenden Begegnungen, die entscheidend sind und nicht so sehr das gemeindepsychiatrisch-institutionelle Netz, das oftmals zur Glocke wird? Bemerkt der Autor diesen Unterschied wiederum nicht, da er nicht ausreichend Theoriearbeit leistet? Müsste sich diese Theoriearbeit mehr mit einer Differenzierung eines phänomenologischen Institutionsbegriffs, einer sozialpsychiatrischen Alltagspraxis und Haltung der Akteure befassen und dabei den sozialen Raum insgesamt in den Blick nehmen?
Und warum verführerische Banalität? Offensichtlich ist der Autor hier der Verführung erlegen, seiner wissenschaftlichen Arbeit einen klingenden Titel zu geben. Er ist der Novelle Tonio Kröger von Thomas Mann entlehnt, in der der Titelheld – den Jung bezeichnenderweise als Fall bezeichnet – davon spricht, dass das Normale das Leben in seiner verführerischen Banalität sei. Die ambulanten Einrichtungen der Gemeindepsychiatrie, von denen Jung spricht, ohne das Paradox dieses Begriffspaares zu reflektieren, sind alles andere als normal. Sie befinden sich zwar in der Gemeinde, sind aber doch künstlich geschaffen – oft mit Fördermitteln – und unterliegen Regeln, die vom Einrichtungsträger vorgegeben werden.
Leider lässt er auch eine Vergleichsebene aus, die seine Interviews ermöglicht. Er hat Interviews mit einem Mann und einer Frau aus den neuen Bundesländern gemacht und mit einer Frau, die vor über dreißig Jahren erstmals in der psychiatrischen Klinik von Wolfgang Blankenburg behandelt wurde. Die Fallrekonstruktionen legen nahe, dass diese Frau nach einer Zwangsunterbringung ihren Weg in ein selbstbestimmtes Leben gefunden hat und lediglich von Zeit zu Zeit Reflexion und Bestärkung für ihren Weg finden muss.
Als das, was mit der Assistenzleistung zur persönlichen Lebensplanung im Rahmen der durch das BTHG geänderten Eingliederungshilfe ermöglicht wird. Beide in Ostdeutschland aufgewachsene und dort psychiatrisierte Personen benötigen – wie die Fallrekonstruktionen nahelegen – ein höheres Maß an Struktur. Insbesondere der Mann. Die drei Rekonstruktionen ermöglichen damit die Fallstrukturhypothese einer unterschiedlichen Abhängigkeit von Fürsorge in Abhängigkeit des gemeindepsychiatrischen Ansatzes.
Jung übersieht die sozialräumlichen Unterschiede mit seinem Versuch, aus der gelungenen Rekonstruktion von Einzelfällen eine soziologische Erklärung dafür zu finden, warum sich die personenzentrierte Rhetorik in einer gemeindepsychiatrischen Glocke verliert. Nicht weil er den Weg geht, die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (Berger/Luckmann) über Einzelfälle zu rekonstruieren, sondern weil er es versäumt, an dem eklatanten Theoriedefizit der Sozialpsychiatrie anzusetzen. Die Zeit für eine Rückbesinnung auf die psychiatrischen Theorieansätze vor der Psychiatrieenquete ist reif.
Das zeigt die Monografie »Psychosen: Ringen um Verständlichkeit«, die sich bereits im Titel direkt auf die phänomenologische Psychiatrie von Wolfgang Blankenburg bezieht und vor allem die Publikation von Samuel Thoma über die Einbeziehung von Alltagstheorien in die psychiatrische Theorie mit einem direkten Bezug auf einen anthropologischen Begriff des Wohnens.
Zu leisten ist die Verbindung der phänomenologisch- psychiatrischen Denkweise mit einem fallrekonstruktiven sozialwissenschaftlichen Ansatz wie ihn Bruno Hildenbrand mit seiner Klinischen Soziologie beschreibt. Das vorliegende Buch ist ein erfreulicher Aufschlag in diese Richtung und sollte von dem wissenschaftlichen und sozialpsychiatrischen Nachwuchs weiter beschritten werden. Insbesondere die Sozialpädagogik sollte an dieser Tradition ansetzen und eine eigenständige Theoriebildung entwickeln.
Die Sackgasse der evidenzbasierten Medizin für die gesamte psychiatrische Versorgung muss verlassen werden, wenn sich die Sozialpsychiatrie ernsthaft um Recovery für Menschen mit schweren psychischen Beeinträchtigungen bemühen möchte. Jörg Michael Kastl hat mit seiner leider wenig beachteten Soziobiografie einer Behinderung »Hannes K., die Stimmen und das persönliche Budget« eine wichtige Vorarbeit geleistet.
Unbedingt genutzt werden sollte die Erforschung des Zusammenlebens von seelisch behinderten Menschen mit Gastfamilien – also einem nicht-institutionellen psychiatrischen Kontext mit rehabilitativem Anspruch. Wie die Entwicklung von Empowerment und Resilienz verläuft, kann nicht durch quantitative Studien über Systemund Einzelinterventionen erfolgen, sondern nur durch die Rekonstruktion des Eingebundenseins in einen lebensweltlichen Kontext. Das hat Patrik Jung mit seiner Studie eindeutig gezeigt.
Michael Konrad in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024