Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Abgehängt und chancenlos?

Bereits seit der UN-Behindertenrechtskonvention, spätestens aber mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG) bevölkert der Begriff »Teilhabe« das sozialpsychiatrische Feld. Wir beginnen zu verstehen, dass »Hilfe zur Teilhabe« etwas anderes ist als »Eingliederungshilfe«. Aber was genau ist Teilhabe? Die vorliegende Hochschulschrift versucht, uns einer Antwort näherzubringen – mit Erfolg, finde ich.

Gute Praxis braucht gute Theorie, in die Andreas Speck einführt. Zur Beschreibung und Messung der individuellen und gesellschaftlichen Wohlfahrt hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten der Capabilities Approach an Bedeutung gewonnen. Anders als eindimensionale Konzepte wie beispielsweise das Bruttosozialprodukt als Wohlstandsindex »... rückt der Capabilities Approach als normativer Referenzpunkt die konkreten individuellen Handlungs- und Gestaltungsspielräume des einzelnen Bürgers in den Mittelpunkt der Bewertungen. Gesellschaftliche Ungleichheiten […] zeigen sich darin, welchen subjektiven Gestaltungsspielraum die konkreten Ressourcen tatsächlich eröffnen« (S. 14). Mit Amartya Sen werden »capabilities« (Verwirklichungschancen) definiert als »Möglichkeiten oder umfassende Fähigkeiten eines Menschen, ein Leben führen zu können, für das sie sich mit guten Gründen entscheiden können und das die Grundlage der Selbstachtung nicht in Frage stellt« (S. 14 f.).

Daneben ist der Begriff »functionings« bedeutsam, mit dem konkret realisierter Handlungs- und Lebensvollzug bezeichnet wird. Das Zusammenspiel beider Konzepte ermöglicht die Beschreibung »guten Lebens« – realisierte Teilhabe ist, wenn der beobachtbare Lebensvollzug auf der Grundlage subjektiv befriedigender Entscheidungen der Person steht. Das schließt auch die Möglichkeit ein, bewusst auf konkrete Teilnahme (am Arbeitsleben, an Parteipolitik usw.) zu verzichten. »Letztlich kann Teilhabe keine Pflichtveranstaltung sein!« (S. 14)

Auf dieses theoretische Fundament baut das Forschungsprojekt BAESCAP auf, dessen Methodik und Ergebnisse in den folgenden Kapiteln referiert werden. Aus verschiedenen bereits existierenden sozialwissenschaftlichen Befragungsinstrumenten, aber auch mit neu formulierten Items wurde ein Fragenkatalog von immerhin 190 Einzelitems in neun Themenblöcken konstruiert. Die Zielgruppe – erwachsene Menschen, mit seelischer Behinderung, im Leistungsbezug der Eingliederungshilfe – wurde in vier Befragungsregionen über die ambulanten, teilstationären und stationären Dienstleister der Gemeindepsychiatrie angesprochen.

Vorzüge und Grenzen dieser Vorgehensweise werden methodisch angemessen und hinreichend kritisch diskutiert. Sowohl die regional sehr unterschiedliche Rücklaufquote (18–42 Prozent, über alle 31 Prozent), wohl abhängig vom Engagement der beteiligten Leistungserbringer und ihrer Mitarbeitenden, wie auch die zu vermutenden Verzerrungen (weniger Rücklauf von Menschen mit stärkeren Beeinträchtigungen) werden diskutiert. Die Autoren behalten die Grenzen der Aussagekraft m.E. gut im Blick. Kritischer äußert sich Stephan Richter (o.J., www.dgsp-hamburg.de/service/kommentar.html).

Der Rücklauf von immerhin 1.897 Fragebögen (31 Prozent) bietet eine Fülle von Auswertungsmöglichkeiten, bis hin zu Vergleichen mit Daten aus der Allgemeinbevölkerung (Sozioökonomisches Panel, SOEP). Die Befunde sind in fünf Kapiteln übersichtlich gegliedert und verständlich dargestellt. Einiges mutet zunächst trivial an, was aber nichts anderes heißt, als dass die Untersuchung unser »gefühltes Wissen« über die Lebenslagen psychisch schwer erkrankter Menschen objektiviert.

In einem weiteren Kapitel setzt sich Marcel Daum unter testtheoretischen Gesichtspunkten und der Fragestellung »Wie können Verwirklichungschancen gemessen werden?« mit dem Datenfundus auseinander. Hier wird deutlich, dass wir es bei BAESCAP mit »work in progress« zu tun haben, beispielsweise handelt es sich bei einigen übernommenen Fragen um Übersetzungen aus dem Englischen oder um Vorversionen, die noch nicht erprobt sind. Wohl aus diesen Gründen, oder auch aus Gründen des Urheberrechts, ist der Fragebogen im Buch nicht dokumentiert; schade, das hätte es noch anschaulicher gemacht.

Überlegungen von Michael Conty zu den (intendierten und /oder tatsächlich zu erwartenden) Auswirkungen des BTHG und sieben programmatische Thesen zu einem »guten Leben« schwer psychisch kranker Menschen in Deutschland (Ingmar Steinhart) runden das Buch ab. Wie auch immer die praktische Arbeit mit diesem und für diesen Personenkreis zukünftig aussehen mag – einfach drauflos helfen war gestern. Leistungsgewährung und Leistungserbringung werden sich stärker als bisher an den Vorgaben von UN-BRK und BTHG ausrichten müssen. Wer sich dafür systematisch fit machen möchte, kommt an diesem Buch nicht vorbei.

Martin Osinski in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024