Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Medizin: Zweifel, nicht Vertrauen ist angebracht!

Dieses über 400 Seiten starke Buch ist ein Parforceritt durch die deutsche Medizinlandschaft. Und was der Leser zu sehen und hören bekommt, ist so negativ, dass man sich seinen nächsten Arztbesuch sicher gut überlegt oder eventuell gleich storniert.

Was ließ den 60-jährigen Radiologen Dr. med. Gerd Reuther nach mehr als dreißig Jahren ärztlicher Erfahrung so an seinem Berufsstand zweifeln, dass er aus dem Medizinbetrieb ausstieg, um – wie er im April 2017 in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau sagte – nicht weiter »Erfüllungsgehilfe für schlechte Medizin« zu sein? Die Antwort lautet, eine sich als modern und potent ausgebende Medizin hat in Wirklichkeit ihren Heilungsauftrag aufgegeben, erzielt bestenfalls noch Remissionen und ist teilweise sogar selbst zum schädigenden Agens geworden. Rundum nämlich kann Reuther Beschwerden von Patienten beobachten, die »durch medizinische Maßnahmen (mit)verursacht« sind, im ärztlichen Alltag aber systematisch ignoriert würden (S. 15). Ganz im Ernst empfiehlt er, die »Ärztliche Behandlung« und durch sie ausgelöste Gesundheitsschäden als eigene Kategorie in die internationalen Krankheitsklassifikationen (ICD, DSM) aufzunehmen. Denn »Ärzte und Krankenhäuser sind Hauptursachen von Krankheit und Tod« (S. 137). Wer dies für falsch oder zumindest stark übertrieben hält, sollte das Kapitel »Hochrisikobereich Klinik« studieren oder die Anmerkungen des Buches durchforsten – 56 kleinschriftige Seiten am Ende bieten zahllose Belege für die Thesen des Autors.

Das grundlegende primum non nocere des ärztlichen Handelns sieht Reuther inzwischen »zu einer Minderheiteneinstellung« (S. 14) verkommen und durch übermäßigen »medizinischen Aktionismus« (Kap. 5) abgelöst. Dieser beruhe aber in den allermeisten Fällen auf persönlichen Mutmaßungen und Vorurteilen. Sowohl in der Diagnostik – Ärzte sind an Krankheitsursachen nicht wirklich interessiert! (s. Kap. 3) – als auch in der Therapie – ein »pharmakologisches Roulette« (S. 28) – herrsche Wildwuchs. Das Buch spricht sogar davon, dass Ärzte »Zocker« seien (ebd.), ihre Maßnahmen und Verordnungen also losgelöst von gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen erfolgten. Festgemacht wird das u.a. an unerwünschten Neben- und unkalkulierbaren Wechselwirkungen von Medikamenten sowie deren fehlender Wirkungskonstanz, unverantwortbarer Polypharmazie, ungerechtfertigt verschobenen Grenzwerten und mehr. Auch daran, dass für Dauertherapien nahezu überall Langzeitstudien fehlen.

Wer jetzt im Gegenargument auf »Leitlinien« verweist, stolpert ins nächste Dunkel: Man erfährt, dass diese keineswegs für alle Fachbereiche der Medizin existieren (z.B. fehlen sie für chirurgische Eingriffe an der Wirbelsäule), vielfach von geringer Qualität sind oder gar von »Interessenkonflik-ten« überlagert werden. Letzteres bedeutet ja nicht mehr und nicht weniger, als dass ihre Ersteller unter starkem Industrieeinfluss stehen und es damit oft zu einer »Unterbewertung von Risiken bzw. einer Überschätzung des Nutzens« von Behandlungen kommt (S. 52). Oder, wie es die frühere Herausgeberin eines angesehenen US-Fachjournals sagt: »Es ist einfach nicht mehr möglich, einem Großteil der veröf-fentlichten klinischen Forschung zu glauben ... oder [sich auf] medizinische Leitlinien zu verlassen« (S. 71). Folgerichtig gilt der Ökonomisierung der Medizin unter dem Titel »Undurchsichtige Geldflüsse und Interessen-konflikte« auch ein ganzes Kapitel des Buches.

Folgt man dem Blick des schreibenden Radiologen auf das Fachgebiet der Psychiatrie, so entdeckt man (natürlich!) auch dort das schon zuvor andernorts beschriebene »medizinische Desaster« (S. 331). Eine biologisch unerklärliche »Verdoppelung von Fallzahlen innerhalb von 20 Jahren« und die Frag-würdigkeit von Diagnosen werden beklagt (S. 109). Ebenso unbewiesene Postulate zu Krankheitsmechanismen (wie das »Ungleichgewicht von Neurotransmittern«, S. 203) oder dass man mit den SSRI Medikamente an depressiv Kranke verabreicht, »die dieselben Symptome erzeugen, die sie bekämpfen sollen« (ebd.) – angespielt wird hier auf das zumindest zeitweise erhöhte Suizidrisiko unter diesen Antidepressiva.

Am Ende des Buches ist man von der Fülle der Daten und Berichte erschlagen und möchte zwar das ein oder andere anzweifeln (Kinderpsychiater in Deutschland behandeln z.B. nicht vornehmlich mit Psychopharmaka), muss aber dem Gesamtbefund doch weitgehend zustimmen. Ja, vieles, was die heutige Medizin macht, ist offensichtlich ein »Herumtherapieren an spontan verlaufenden Heilungen« (S. 12). Und »die Lotterie für den Patienten heißt: Chance auf ein längeres Leben im Einzelfall gegen ein höheres Krankheits- und Sterberisiko durch Behandlungen« (S. 14) im Allgemeinen. Es sieht nicht gut aus um die gegenwärtige Medizin, die »den kranken Menschen aus dem Blick verloren« hat (S. 20) und wirtschaftliche Interessen übermäßig bedient.

Jürgen Karres in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024