»Psychologisches Wissen wurde immer schon von Mächtigen zur Unterdrückung genutzt.« (S. 2)
Die Dissertation des Autors behandelt in fünfter Auflage ein »Nischenthema«, von dem er sich nach zwanzig Jahren noch einen »Forschungsanstoß« erhofft. Gegenstand ist die »Operative Psychologie« (OP) des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS). Ziele der OP waren die »Feindbearbeitung, die Arbeit mit hauptamtlichen Kadern, die Arbeit mit Inoffiziellen Mitarbeitern (IM), die Arbeit am Feindbild und die Auseinandersetzung mit feindlichen Ideologien« (S. 312). Ein weiteres Ziel war die psychologische Grundlagenbildung für Offizieredes MfS. Der Autor begründet im Vorwort die Aktualität mit den Ereignissen nach 2001 und spricht von Zeiten der »Zunahme geheimdienstlicher Aktivitäten«, von »Geheimgefängnissen der CIA«.
Für die Untersuchung wurden ca. 40.000 Seiten MfS-Akten und Originale der Juristischen Hochschule (JHS) sowie 327 Dokumente der OP statistisch und inhaltlich ausgewertet. Sie leistet einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Psychologie und wendet sich an Expertinnen und Experten der Historiografie, der Psychologie und der Soziologie.
Die Lektüre ist eine ungemütliche, oft schwer (er)tragbare Kost, die an manchen Stellen einen warnenden »Trigger«-Hinweis verdient hätte.
Der Rezensent dankt für den augenöffnenden Einblick in die verzerrte Selbstwahrnehmung des MfS und der Dokumentation des seelischen Missbrauchs, mit dem das MfS systematisch und mit einer schier unglaublichen Menschenverachtung »Freund und Feind« zum Objekt seiner Tätigkeit machte. Dabei werden dem Vorwort und einzelnen Kapitelüberschriften Zitate aus dem MfS-Jargon zur Seite gestellt, die den Inhalt des jeweiligen Kapitels paraphrasieren. Eröffnet wird dieser »Reigen« z.B. mit einem Zitat von Erich Mielke: »Es darf keinen unter uns oder neben uns geben, den wir nicht kennen.« (S. 1) Dem Kapitel zur Einordnung der OP in das Zeitgeschehen ist folgendes Zitat vorangestellt: (Trigger-Warnung!) »Auftretende Mitgefühle oder gar Wehleidigkeit sind mit aller Konsequenz zu unterdrücken, da diese zur Gefährdung der operativen Maßnahmen führen können. MfS JHS VVS o001 – 315/89« (S. 25)
In Erwartung allzu häufig reproduzierter, antikommunistischer Stereotype in der geschichtswissenschaftlichen Abrechnung mit der DDR, wich die Skepsis beim Lesen einer interessierten Betroffenheit. Der sachliche Duktus der Dokumentation sowie die einfühlsame und vorsichtige Bewertung durch den Autor geben dafür den Ausschlag.
Bei der OP handelt es sich um ein »Herrschaftswissen«, das wörtlich zu nehmen ist: Frauen kommen nämlich in den untersuchten Dokumenten so gut wie gar nicht vor. Frauen werden aus dem Blickwinkel einer prüden Männergesellschaft betrachtet. Sexualität − immerhin ein nicht ganz unwichtiger Aspekt psychologischer Anthropologie − wird hier ausnahmslos als instrumentalisierende Strategie »tschekistischer« Arbeitsaufträge oder bei moralischen Verfehlungen als »Kompromat« verstanden (BStU 1993: 217; nach Richter S. 243). »Kompromate« waren nach dem Verständnis des MfS Sachverhalte, die geeignet waren, dem Ansehen und dem Ruf von Menschen zu schaden, bzw. um sie zur Erpressung zu nutzen. Weiterer MfS-spezifischer Terminus ist die »Legende«, eine aufwendig konstruierte Lügen-Architektur zum operativen Einsatz offizieller und inoffizieller Mitarbeitender. Ein weiterer Kampf-Begriff war der von der »Zersetzung«, die als »Methode des MfS zur Bekämpfung subversiver Tätigkeit« verstanden wurde und sich gegen »feindlich-negative Personen« richtete (BStU 1993: 464; nach Richter S. 207).
Die Ergebnisse der OP waren im Wesentlichen unwissenschaftlich. Es fehlten Kriterien der Wissenschaftlichkeit genauso wie empirische Überprüfbarkeit, allgemeine Regeln der Zitation, Wertfreiheit sowie eine diskursorientierte Offenheit in den ausgewerteten Dokumenten. Die Berücksichtigung wissenschaftlicher Grundlagenliteratur bleibt oft eine Fehlanzeige (S. 30 ff.). »Es zeigt sich ein starker Widerspruch zwischen wissenschaftlichem Anspruch und der Durchführung der Repressionsmaßnahmen, die eher als krude und simplifizierende Alltagspsychologie zu verstehen sind. […] Es herrschte eine Methodenperversion, d.h. Unterdrückungsmaßnahmen wurden mit wissenschaftlichen labels belegt, um die Verwendung zu rechtfertigen.« (S. 316)
Das MfS und die politischeElite der Republik litten an einer »chronifizierten Angststörung«, die sich sprachlich aus den Dokumenten des »Beauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der DDR (›Gauckbehörde‹)« herauslesen lässt. Der Autor spricht mit Bezug auf Elias Canetti (1905−1994) gar von einem »paranoiden Wahnsystem« (S. 317). Der permanente Missbrauch marxistischer Begriffe für eine Praxis, die emanzipativen Intentionen diametral entgegenstand, versetzte den Kräften, die Emanzipation und Revolution bürgerlicher Unterdrückungsverhältnisse wollten, einen unverwechselbaren Bärendienst, d.h. einen Schlag, der sie mundtot und mutlos machte und langfristig lähmte. So will es die Ironie der Geschichte, dass das MfS jene Verhältnisse für folgende Jahrzehnte zementierte.
Dem Rezensent erschließt sich nach der Lektüre jedenfalls, warum sich die DDR auflösen musste.
Stephan Bert Antczack in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024