Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie
Dachverband Gemeindepsychiatrie
Bundesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen
Psychiatrie Verlag

Sozialraumorientierung in der Eingliederungshilfe

Das Bundesteilhabegesetz verpflichtet die Protagonisten zur sozialräumlichen Entwicklung. Soll sich diese nicht darin erschöpfen, dass Teilhabeberater oder -planer regional zugeordnet werden, dann benötigt die Sozialraumorientierung Methoden. Auch kann es nicht schaden, die Entwicklungslinien, theoretische Grundlagen und verschiedene Definitionen der Sozialraumorientierung kennenzulernen. Beide Aspekte, Theorie und praktische Instrumente zu vermitteln, haben sich Dieter Röh und Anna Meins in ihrem Buch zum Ziel gesetzt. Der theoretische Teil nimmt dabei rund ein Viertel des Buches ein.

In der Einleitung überraschen die Autoren mit dem Rückgriff auf den Begriff des behinderten Menschen, der lange Zeit als verpönt galt, und nun eine Renaissance erlebt, weil er den gesellschaftlichen Behinderungsprozess von beeinträchtigen Menschen kennzeichnet. Die theoretische Annäherung an die Sozialraumorientierung fächern die Autoren breit und greifen dabei verschiedene Konzeptionen auf. Besonders erhellend ist hier die Berücksichtigung kritischer Stimmen. So wird u.a. die Diskussion um die neoliberalen Untertöne des Empowerment-Konzepts angerissen und Julian Rappaport mit dem Satz zitiert: »Rechte ohne Ressourcen zu besitzen, ist ein grausamer Scherz« (S. 30). Auch die Annahmen von Dörner über den »dritten Sozialraum« und die »Helfensbedürftigkeit« von Menschen werden kritisch gewürdigt. In der soziohistorischen Forschung gebe es Hinweise auf Sozialräume als Orte der »(Re-)produktion von Machtverhältnissen und sozialer Ungleichheit« (S. 43). Versöhnlicher fällt dagegen die Einordnung der vermeintlich gegensätzlichen Konzepte von Personen- und Sozialraumorientierung aus. Letzteres stelle, so Röh und Meins, eine sinnvolle Erweiterung der Personenorientierung dar.


Dem Theorieteil schließt sich ein Kapitel zur »Teilhabe behinderter Menschen« an. In diesem schwingt das Problem der Teilhabehindernisse durch die institutionalisierte Psychiatriegemeinde an vielen Stellen mit. Wie im Theorieteil lohnt sich hier die aufmerksame Lektüre, mitunter finden sich Textabschnitte, die Überraschendes bieten und Wendungen präsentieren. So wird es einige Leser womöglich verwundern, dass Röh und Meins die in den letzten Jahren häufig in die Kritik geratenen WfbM als positives Beispiel für praktizierte Sozialraumorientierung anführen. Sowohl aufgrund der Annahme von Aufträgen örtlicher Betriebe als auch durch die Schaffung von Außenarbeitsplätzen, Integrationsbetrieben und Vermittlung von Praktika im ersten Arbeitsmarkt seien die WfbM sozialräumlich aktiv. Hier könnten Angebote des Wohnens und der Freizeit von den WfbM lernen. Wie wichtig die Sozialraumorientierung
für eine erfolgreiche Teilhabe von psychisch beeinträchtigten Menschen ist, macht ein Zitat von Röh deutlich: »[…] das stationäre Ghetto [wurde] durch ein ambulantes Ghetto ersetzt, also die sichtbaren Mauern durch weniger sichtbare oder unsichtbare Mauern […], die in der Konsequenz jedoch immer noch die Lebenswelten von psychisch kranken Menschen und dem Rest der Bevölkerung voneinander trennen.« (S. 73) Nach einem Zwischenresümee schließt nun ein Kapitel zu den Methoden und Techniken sozialraumorientierter Praxis an. Erfreulicherweise gelingt den Autoren der Switch von der theoretischen Betrachtung zur Vorstellung praktischer Methoden hervorragend.

Die Unterkapitel zu den verschiedenen Methoden sind klar gegliedert in »Hintergrund und Zielsetzung«, »Hinweise zur Durchführung«, »Benötigte Materialien« und »Nutzung der Ergebnisse«. Die Methoden werden zudem noch mal unterteilt in eine personenbezogene und eine personenübergreifende Ebene, für die eingängige Formulierungen von der »Erweiterung des persönlichen« bzw. »gesellschaftlichen Möglichkeitsraum« gewählt wurden. Die Bandbreite der vorgestellten Methoden ist groß, umso beachtlicher ist die Detailfülle, mit der Röh und Meins aufwarten. Sowohl in den Zielsetzungen als auch im Umfang der benötigten Materialien, in den Anforderungen an die beteiligten Personen, aber auch in den erforderlichen zeitlichen und personellen Ressourcen unterscheiden sich die Methoden erheblich. Die zu jeder Methode dargestellten Beispiele verschaffen einen guten Überblick darüber, wie sie sich jeweils praktisch umsetzen lassen und was es dabei alles zu beachten gilt. Zu einigen Methoden finden sich Checklisten oder Beispiele für Formularvorlagen. Abgerundet wird jedes Kapitel mit einer Literaturempfehlung, die meist mehrere Buchtitel umfasst.

»Sozialraumorientierung in der Eingliederungshilfe« schlägt einen lesenswerten und für die praktische Anwendung hilfreichen Bogen. Begriffe werden ausführlich dargelegt, einzelne Aspekte der theoretischen Reflexion sind in ihrer kritischen Würdigung durchaus ernüchternd, schärfen aber den Blick. Der zweite Teil des Buches macht beim Lesen bereits Vorfreude darauf, in die Planung der praktischen Umsetzung der Sozialraumorientierung einzusteigen. Dabei ist erfreulich, dass Röh und Meins besonders auf behinderte Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen fokussieren.

Ilja Ruhl in Soziale Psychiatrie

Letzte Aktualisierung: 26.04.2024