Die Psychiatrie der Zukunft – Eine neue Sozialmedizin?
Nikolas Rose ist in Sachen Psychiatriekritik wahrlich kein Unbekannter. In den 1980er und 1990erJahren machte er sich einen Namen als ein Analytiker politischer Macht, der in der Tradition des Denkens Michel Foucaults aufzeigte, wie tiefgreifend gerade das Expertenwissen der PsyDisziplinen die modernen westlichen Gesellschaften und das Selbstverständnis der in diesen lebenden Individuen prägte. Es folgten zahlreiche Arbeiten zu im weitesten Sinne medizinsoziologischen Themen, in denen sich Roses Fokus nach und nach in Richtung der Life Sciences und Neurowissenschaften ausdehnte. Rose wurde schließlich sogar Teil einer Arbeitsgruppe des Human Brain Projects und bekleidete bis ins Jahr 2021 den Lehrstuhl für »Global Health and Social Medicine« am Londoner King’s College.
Roses aktuelles Buch stellt nun gewissermaßen eine Rückkehr zu seinen Wurzeln dar, denn es ist nun wieder explizit der Psychiatrie gewidmet, und zwar der zeitgenössischen gleichwohl wie der Psychiatrie der Zukunft. Und, so macht es bereits der Titel klar, diese Zukunft betrifft nicht nur in der Psychiatrie Tätige und deren Patient:innen, sondern uns alle im emphatischen Sinne. Dass dies keineswegs übertrieben ist, belegen nicht zuletzt die von Rose referierten epidemiologischen Zahlen, die den im globalen Norden lebenden Menschen in etwa eine FiftyFiftyChance bescheinigen, auf Lebenszeit gesehen in den fragwürdigen Genuss einer psychiatrischen Diagnose und Behandlung zu kommen. Selbst sollte man das Glück haben, nicht zu dieser Hälfte zu gehören, so würde immer noch in etwa die Hälfte unserer persönlichen Sozialkontakte zur jeweils anderen Hälfte gehören. Klingt kompliziert, aber eines scheint sicher: Ein Leben ohne zumindest regelmäßigen indirekten Kontakt mit der Psychiatrie wäre somit in den westlichen Gesellschaften eine Anomalie.
Roses Ausblick auf die Psychiatrie der Zukunft und ihre gesellschaftliche Funktion beginnt nach etwas langatmiger Einleitung mit einer Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Psychiatrie, die wohlgemerkt den Großteil seines Buches ausmacht. Dafür identifiziert er sieben grundlegende Fragen, denen er je ein separates Kapitel widmet. So streut Rose direkt am Anfang erst einmal Zweifel an der Richtigkeit der genannten epidemiologischen Zahlen, die meist auf Extrapolationen und wenig validen SymptomFragebögen beruhen würden, was sich aller Wahrscheinlichkeit nach in einer groben Überschätzung der tatsächlichen Prävalenzen niederschlage. Diese zu hoch angesetzten Prävalenzen würden dann jedoch allzu häufig im selben Atemzug ins Feld geführt mit Forderungen nach öffentlichen Geldern für bio und neurowissenschaftliche Forschungsprogramme. Die Rhetorik einer vermeintlichen Epidemie und der Sorge um das Wohl der Gesellschaft entlarvt sich somit letztlich selbst als Lobbyismus in eigener Sache der Proponent:innen einer ganz bestimmten Form von psychiatrischer Forschung. Auch der Versuchung, aufgeblähte epidemiologische Befunde zu affirmieren, indem sie dankbar als Beweis für das Scheitern des neoliberalen Kapitalismus aufgenommen werden, widersteht Rose erfolgreich. Er geht auf Distanz zu pauschalen Gegenwartskritiken und diskutiert stattdessen fundiert die komplexen, teils durchaus widersprüchlichen Befunde zur pathogenetischen Rolle von Stress und Einsamkeit oder zur protektiven Kraft einer guten sozialen Einbindung. Hier gibt Rose bereits einen Fingerzeig in Richtung der Psychiatrie der Zukunft, die ihm selbst vorschwebt, indem er eine Lanze für die Bedeutung sozialer Determinanten von psychischer »Krankheit« und »Gesundheit« bricht, die letztlich gesellschaftlich gewachsen, historisch geworden, menschengemacht und dadurch potenziell auch in eine positive Richtung veränderbar seien.
In den folgenden Kapiteln kommen typische psychiatriekritische Themen zur Sprache wie die Angemessenheit psychiatrischer Klassifikation und Diagnostik, die Biologisierung psychischer Krisen und Beeinträchtigungen als vererbbare »Gehirnerkrankungen« und der zweifelhafte Nutzen von Psychopharmaka. Dabei spielt Rose seine ganze Erfahrung aus und gibt souverän einen Überblick über den Stand der Forschung und die dazugehörigen öffentlichen und innerwissenschaftlichen Diskurse. So rekapituliert er beispielsweise die Entwicklung des DSMSystems und die sämtlich fehlgeschlagenen Versuche einer nachträglichen wissenschaftlichen Validierung dieses ohnehin nicht sehr zuverlässigen Konstrukts durch Biomarker, Genetik und Hirnforschung. Ohne dabei jemals in die Nähe einer derart unhöflichen Formulierung zu kommen, zeigt Rose deutlich, was diese Art von Forschung letztlich war und ist: Ein Milliardengrab für Steuergelder. Dies gilt auch für den überwiegend fehlgeschlagenen Versuch der Entwicklung neuer und präziser wirkender Psychopharmaka. Wenngleich Rose nicht grundsätzlich den Nutzen von Psychopharmaka in Ausnahmesituationen in Abrede stellt, so ist sein Fazit doch ernüchternd, dass all die mit kolossalem Aufwand entwickelten neueren Psychopharmaka, seien es nun Antidepressiva oder Neuroleptika, kaum besser wirken würden als ihre meist schon vor Jahrzehnten zufällig entdeckten Vorläufer. Kein Wunder also, dass sich die großen Pharmakonzerne zunehmend aus der kostenintensiven Entwicklung neuer Psychopharmaka zurückziehen, für die sich in den letzten Jahrzehnten immer seltener neue Marktzulassungen erzielen ließen. Roses Prophezeiung, dass Psychopharmaka in der Psychiatrie der Zukunft deutlich an Boden verlieren könnten, erhält somit Rückenwind aus unvermuteter Richtung. Auch die noch weitgehend unerschlossenen Märkte im globalen Süden könnten für die Pharmaindustrie nur ein kurzlebiges Ausweichmanöver darstellen. Wenngleich sich WHOnahe Aktivist:innen unermüdlich dafür einsetzen würden, auch in den ärmeren Ländern der Welt ein psychiatrisches Versorgungssystem nach westlichem Maßstab zu etablieren, wachse auch hier das Bewusstsein, dass psychisches Elend meist in sozialem Elend wurzele, welches durch Medikamente und Diagnosen wenig bis gar nicht beeinflussbar sei.
Roses Gegenwartsanalyse wird abgeschlossen von einem Kapitel zum Stellenwert von Psychiatrieerfahrenen in Versorgung und Forschung. Dabei ist nicht zu übersehen, dass dem Autor dieser Teil besonders am Herzen liegt, sicherlich nicht zuletzt, weil er langjährig verheiratet ist mit der bekannten UserForscherin Diana Rose, der auch das gesamte Buch gewidmet ist. Rose schildert hier knapp die Geschichte der User und SurvivorBewegung und würdigt ihre Errungenschaften, die sich etwa darin zeigen würden, dass viele ehemals geradezu extremistisch wirkenden Forderungen (z. B. weitgehende Selbstbestimmungsrechte bezüglich der eigenen Behandlung) inzwischen breite gesellschaftliche Mehrheiten fänden oder bereits spürbare Veränderungsprozesse in den psychiatrischen Institutionen angestoßen hätten. Ausruhen darauf dürfe man sich hingegen nicht: Eine der wichtigsten Säulen der Psychiatrie der Zukunft müssten von User:innen geleitete, niedrigschwellig erreichbare und wenig medikalisierte Unterstützungsangebote sein, die zwar autonom agieren könnten, aber nicht gänzlich den Kontakt zum sonstigen Versorgungssystem und den sogenannten Profis abbrechen sollten. Auch in der Wissenschaft müsste von User:innen geleiteter Forschung ein besonderes Gewicht zukommen, da sich durch diese erst die Möglichkeit auftun würde, in dem verknöcherten psychiatrischen Wissensproduktionssystem wahre Paradigmenwechsel herbeizuführen. Doch auch hier sollte es nicht zur Abschottung unterschiedlicher wissenschaftlicher Communities voneinander kommen. Rose lässt klar erkennen, dass für ihn Multiperspektivität und Dialog Werte an sich darstellen, da nur eine Vielfalt unterschiedlicher Zugänge überhaupt die Chance bietet, den verschiedenen Dimensionen von psychischer »Gesundheit« bzw. »Krankheit« gerecht zu werden.
Im Schlussteil führt Rose schließlich alle Analysefäden zusammen und umreißt seine Vision einer Psychiatrie der Zukunft. Diese müsse die entscheidenden Lehren aus den Missständen der Gegenwart ziehen und auf kritische Distanz gehen zu z. B. kategorialer Diagnostik und dem inflationären Einsatz von Psychopharmaka. Biologisch orientierte Forschung, darunter auch Genetik und Neurowissenschaften, hätte dann in der psychiatrischen Wissenschaftslandschaft zwar immer noch ihren Platz, sollte sich aber wesentlich stärker in den Dienst der Erforschung psychosozialer Determinanten von psychischer »Gesundheit« und »Krankheit« stellen. Legitime Erkenntnisziele seien etwa, wie sich soziale Stressoren in die Biologie von Individuen einschreiben würden, etwa über StressPathways oder das Immunsystem. Psychiater:innen müssten sich angesichts zunehmenden Userinvolvements in Versorgung und Forschung zwar nicht um ihren Broterwerb sorgen, aber doch eine deutliche Veränderung ihres Tätigkeitsbereichs mittragen. Rose sieht sie eher als eine neue Gattung Sozialmediziner:innen, die in der Unterstützung von Menschen in psychischen Krisen eng und nicht hierarchisch mit diversen anderen Expert:innen zusammenarbeiten und sich darüber hinaus einbringen sollten in eine der psychischen »Gesundheit« zuträglichen Gestaltung von Sozialsystemen, Arbeitsplätzen oder urbanen Lebensräumen.So überzeugend Rose überwiegend in seiner Gegenwartsanalyse ist, so wirft doch gerade die Vagheit seiner Zukunftsvision die Frage auf, ob das denn überhaupt alles so funktionieren kann. Die Psychiatrie, die Rose vorschwebt, erscheint in doppelter Hinsicht entgrenzt. Nicht nur ihr Zuständigkeitsbereich weitet sich in bemerkenswerter Weise auf, indem Psychiater:innen zu universellen Ratgeber:innen für das menschliche Zusammenleben werden, sondern auch die Unterstützungsangebote würden durch die Entkopplung von Diagnostik und dem professionellen System tiefer denn je in das gesellschaftliche Gewebe hineingeflochten. Möglicherweise sind die von Rose befürworteten Veränderungen ein vernünftiger Ausweg aus der bisherigen neurobiopsychiatrischen Sackgasse, ohne dabei direkt das Kind mit dem Bade auszuschütten. Dennoch bleibt das ungute Gefühl zurück, dass es doch gerade die »fuzzy edges« der Psychiatrie waren, also die chronische Nebulosität der Grenzen ihrer Zuständigkeit, die zu den aktuellen Rekordzahlen an psychiatrisch diagnostizierten und behandelten Menschen und der doch recht weit gediehenen Psychiatrisierung der Gesellschaften des globalen Nordens entscheidend beigetragen haben.
Abschließend bleibt zu fragen, ob Roses neues Buch denn den zugegebenermaßen hohen Erwartungen gerecht werden konnte. Einiger Reibungen mit dem Schlussteil zum Trotz kann dies zum Großteil bejaht werden. Nicht alles, was Rose schreibt, ist fundamental neu, aber sein Überblick imponiert und seine Ausführungen sind ist stets differenziert und bereichernd. Auch dass seine Zukunftsvision nicht bis ins letzte Detail klar umrissen ist, sollte man Rose vielleicht nicht wirklich vorwerfen. Die Psychiatrie der Zukunft ist letztlich auch eine Art Utopie, und vor dem zu genauen Auspinseln von Utopien sollte man sich frei nach Adorno ja tunlichst hüten, damit sich in das scheinbar Neue die Fehler des Alten nicht hinterrücks direkt wieder einschleichen.
Timo Beeker in Sozialpsychiatrische Informationen
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024