»Ambulant vor stationär« – das ist eine Forderung in nahezu allen Sozialgesetzbüchern (SGB). Die Praxis erfülle diese nur unzureichend, so die Klagen vieler Expertinnen und Experten. In dem Band »Rundum ambulant« wird nun ein Modell entwickelt, das zeigen soll, wie psychiatrische Versorgung für chronisch psychisch erkrankte Menschen mit komplexem Hilfebedarf neu organisiert sein könnte.
Bereits 2014 hatten die Herausgeber in der »Psychiatrischen Praxis« ein Plädoyer für das »funktionale Basismodell gemeindepsychiatrischer Versorgung« gehalten. Dieses zielt auf die Sicherstellung der Behandlung und Teilhabe von Menschen mit schweren und komplexen psychischen Störungen ab, die bislang nicht immer ausreichend z.B. durch niedergelassene Fachärzte und Psychotherapeuten behandelt werden (können). Der Grundgedanke: Ohne Rücksicht auf die Grenzen der sektoralen Versorgung soll ein Mindeststandard für gemeindepsychiatrische Behandlungs- und Teilhabeleistungen definiert werden. »Funktional« meint, in jeder psychiatrischen Versorgungsregion erfolgt die Basisversorgung durch multiprofessionelle und mobile Teams.
Diese sind mit Modulen der »Krisenintervention 7 Tage/24 Stunden«, der »komplexen ambulanten Behandlung«, »nachgehender Intensivbehandlung«, mit »Nutzung alternativer Rückzugsorte mit intensiver Behandlung«, »niedrigschwelliger (Akut-)Psychotherapie« und »Peerarbeit« bis hin zu sogenannten ergänzenden Teilhabeleistungen wie Rehabilitation, Arbeit, Wohnen und soziale Teilhabe verknüpft. Sie gruppieren sich um das Basismodell und integrieren die Teilleistungen. In dem nun erschienenen Band haben die Herausgeber dieses Modell ausgebaut. Drei Kapitel gliedern das Buch: »Grundlagen«, »Praxismodelle« sowie »… und wie weiter?«.
Über 30 Autorinnen und Autoren greifen aus ihrer beruflichen Praxis heraus das »funktionale Basismodell« auf. Dazu gehören u.a. die psychosozialen Therapien, die Institutsambulanzen sowie als Praxismodelle die mobilen Teams in Geesthacht, Integrierte Versorgung, Gemeindepsychiatrische Verbünde, Genesungsbegleitung, Soteria etc. bis hin zum Wohnen als Teilhabeleistung. Sie liefern die derzeit beste Übersicht darüber, was an innovativen Ansätzen praktiziert wird.
Wer sich mit dem Ansatz beschäftigt, muss den Herausgebern schon hinsichtlich ihrer Einschätzung der (defizitären) Versorgung Schwerkranker recht geben. Menschen, die psychisch erkrankt auf der Straße leben, die sich unerreichbar in einer Wahnwelt zu Hause einschließen, die, wenn es zu spät ist, nur noch durch ordnungsrechtliche Maßnahmen der Unterbringung zwangsweise zugeführt werden, die im Maßregelvollzug landen, weil sich niemand ausreichend zuständig fühlt – diese gehören in den Fokus gerückt. Und Gleiches gilt für Angehörige, die in ihrer Sorge und Angst nicht immer ernst genommen werden, wenn die Krise längst zum Sturm geworden ist und die familiäre Katastrophe droht. Innovativ ist die Auseinandersetzung mit den aktuellen Reformansätzen: sei es das inzwischen beschlossene PsychVVG mit der Option eines Krankenhauses (auch) ohne Bett, die sektorenübergreifende Behandlung nach § 64 SGB V oder die Integrierte Versorgung mit der an ihr geübten Kritik einer zu engen kassenspezifischen Vertragsumsetzung. Zugleich betonen die Autoren immer wieder die Notwendigkeit einer evidenzbasierten Ausgestaltung.
Auf den 320 Seiten erhalten Leserin und Leser einen umfassenden und anregenden Eindruck neuer möglicher Vernetzungen. Was jahrzehntelang bislang am Rande stand, wird jetzt in die Mitte platziert. Das mobile Team wird zur Basis. Damit stellt sich die Frage, ob der Ansatz die Resonanz erfährt, die er braucht, um angenommen zu werden. Oder, wie es richtig auf S. 278 heißt: »In Deutschland gibt es ein eindrückliches Missverhältnis zwischen der Initiierung von Modellprojekten und deren Generalisierung in der Versorgungspraxis.« In zwei Abschlussbeiträgen wird daher ein Strategiemodell entworfen, welches z.B. den Vorschlag macht, die aus der Integrierten Versorgung bekannten Managementgesellschaften weiterzuentwickeln. Allerdings treten die akribisch durchdeklinierten Elemente des Strategiemodells derartig umfassend auf, dass sie nach Ansicht des Rezensenten an ihrer eigenen Komplexität zu ersticken drohen.
Das Buch ist geschickt angelegt, weil es zahlreiche innovative, aber lose Mosaiksteine zusammenträgt. Dies erfreut, da die Herausgeber sich ansonsten gegenüber dem »bunten Wildwuchs einer ambulanten gemeindepsychiatrischen Sozialpsychiatrie« eher kritisch verhielten. Also doch Bottom-up? Das Buch ist an der Zukunft orientiert, versucht die innovativen Ansätze an das Modell zu binden, hinterlässt aber ein Gefühl der Ohnmacht. Kann denn der Durchbruch nur gelingen, indem man wie ein Gartenarchitekt Landschaften am Reißbrett entwirft, ohne dass es einen Bauherrn gibt? Es fehlt der Auftraggeber, der von der Qualität des Entwurfs überzeugt sein will.
Die Gesundheitspolitik und ihre wichtigsten Akteurinnen und Akteure bleiben außen vor. Reaktionen aus Gesetzgebung, Politik und Bundesadministration sind also noch herauszufordern. Dennoch: Wer eine empirisch sauber nachgewiesene Kritik der psychiatrischen Fehlversorgung schwer erkrankter Menschen sucht, wird von Steinhart und Wienberg sehr gut bedient. Über 20 sogenannte ungelöste Probleme listen sie auf, beginnend mit der zu hohen Zahl klinischer Betten, dem Maßregelvollzug, der hohen Zahl niedergelassener Psychotherapeuten zulasten der nervenärztlichen Grundversorgung weiter über die restriktiv umgesetzte psychiatrische Pflege und Soziotherapie bis hin zu den Defiziten in der Teilhabe von Menschen mit chronischer Erkrankung.
Vermisst hat der Rezensent Beiträge aus dem gesundheitspolitischen Lager von Abgeordneten des Deutschen Bundestages, außerdem von einem hochrangigen Repräsentanten der gesetzlichen Krankenversicherung sowie von einem Angehörigen wie Dr. Hans Joachim Meyer (Hamburg), der ja explizit mit der Initiative zur aufsuchenden Behandlung den Finger in die gleiche Wunde legt. Das funktionale Basismodell – sollte es die Chance erhalten, die Versorgung »rundum ambulant« qualitativ besser sicherzustellen – muss noch »das Runde in das Eckige« bringen. Schaut man sich das Symbolbild des Covers genauer an, so sieht man: Die Buntstiftmine ist rund. Das Holz des Schaftes um sie herum bleibt eckig.
Christian Zechert in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024