Die seit 2016 im Psychiatrie Verlag von Thomas Bock herausgegebene Reihe »Anthropologische Psychiatrie« ist ein verdienstvoller Versuch, die legendäre »Theoriearmut« der Sozialpsychiatrie abzustellen. Dort hat jetzt der Berliner Sozialphilosoph und Psychiater Samuel Thoma sein erstes Buch veröffentlicht: Common Sense und Verrücktheit im sozialen Raum. Entwurf einer phänomenologischen Sozialpsychiatrie.
Der Titel ist eigenwillig, der Anspruch beachtlich und die Idee interessant. Thoma will die Sozialpsychiatrie in der philosophischen Phänomenologie verankern. Das ist nicht neu und folgt der führenden Denkrichtung in der gegenwärtigen Philosophie der Psychiatrie. Im Mittelpunkt der über 300 Seiten stehen die Prinzipien einer dialogischen Grundhaltung der Begegnung mit »verrückten« und psychiatrieerfahrenen Menschen. Keine einfache Kost, eher Lektüre für Feinschmecker. Die zubereitete Delikatesse heißt »Sensus Communis«, der menschliche Gemeinsinn als Knotenpunkt der mentalen Vermögen mit antiken begriffsgeschichtlichen Wurzeln.
Als Entree kommentiert Thoma die historischen Verbindungen zwischen phänomenologischer Psychiatrie und Sozialpsychiatrie im 20. Jahrhundert kritisch und sachkundig. Der erste Hauptteil führt in die Methodik der Phänomenologie und die Geschichte des Sensus Communis ein. Kapitelweise erklärt Thoma dessen dreifache Struktur und Funktion. Der Sensus Communis koordiniere zum einen als »Gemeinsinn« das Zusammenspiel der leiblichen Sinne, also die einheitliche Wahrnehmung von Selbst und Welt (begründet mit V. v. Weizsäckers »Gestaltkreis«, B. Waldenfels‘ Begriff des »Fremden« und H. Maldineys Ideen über die Rhythmen der Empfindung). Zweitens ergebe sich der »soziale Sinn« durch die Einübung »zwischenleiblicher« Gewohnheiten als intuitive Vertrautheit mit der gesellschaftlichen Ordnung (P. Bourdieus Habitustheorie). Der dritte Aspekt sei der »Common Sense«, das lebenspraktische und »kreative Denkvermögen« im Einklang mit Interessen anderer (H. Plessners Konzept der »exzentrischen Positionalität« des Menschen, G. H. Meads Begriff des »generalisierten Anderen«).
In dieses Tableau des Menschseins montiert Thoma Interpretationen klassischer Fallgeschichten (z.B. von L. Binswanger, W. Blankenburg), aber auch aktueller Selbstzeugnisse von psychoseerfahrenen Menschen, denen er eine »grundlegende Expertise und Verständigungskompetenz« zuspricht. Er riecht die Gefahren der traditionellen phänomenologischen Ansätze (Universalismus, defizitorientierter Krankheitsbegriff), vertritt Ideen der »Post-Phänomenologie« und spricht anstatt von »Schizophrenie« von »Verrücktheit« als Teil der conditio humana: »Die Möglichkeit einer ›verrückenden Störung‹ ist somit schon selbst in soziale Gestaltungsprozesse miteingeschrieben. […] Die Störung gehört notwendig und wesentlich zur sozialen Ordnung.« Sie beweise deren »Lebendigkeit und Offenheit« (S. 161) ebenso wie die prinzipielle »Verletzlichkeit« des Menschen. Eine solche »Störung« sei zwar nur im Verhältnis zu den Regeln des Sozialraums erkennbar, bleibe jedoch auch in diesem Sinne ein »Verlust« von basalen Funktionen des Sensus Communis.
Der jeher phänomenologischen Deutungen anhaftende Geschmack der Rede über den »Verlust« mentaler Vermögen in der Verrücktheit dringt also auch hier durch – Thoma würzt jedoch nach. Im zweiten Hauptteil umgeht er das Problem mit einem originellen Kniff. Anstatt die Modi jenes »Verlustes« weiter individualistisch auszudeuten, thematisiert er die Dynamik der Räume, in denen die Betroffenen sich bewegen: Wohnorte, intime, private, öffentliche und virtuelle Räume, deren Grenzen und die darin gelebte Nähe oder Distanz. Wenn die Abstimmung der Raumerfahrung mit sozialen Regeln nicht mehr gelinge und die Menschen »Nischen der Verrücktheit« aufsuchen, empfiehlt er anstatt »psychiatrischer Nicht-Orte« eine »Therapie des sozialen Raums«.
Thoma spricht sich für begleitete Verständigungsorte aus, für den »offenen Dialog«, Home Treatment, Anti-Stigma-Arbeit und Soteriaprojekte. Und er fordert dort eine sozialpsychiatrische Grundhaltung der »Komplizenschaft«: »In diesen Räumen wiederum erfüllt die von mir vertretene phänomenologisch-anthropologische Sicht auf den Menschen ihren besonderen Sinn, und zwar nicht als Bestimmung einer allgemeinen Norm des Menschen, dessen Scheitern der Wahnsinn wäre, sondern – wie hier vorgeschlagen – als immer wieder neu zu stellende Frage danach, wer wir in der Begegnung mit dem Wahnsinn sind.« (S. 270)
Samuel Thoma lädt in seinem Buch die Leserinnen und Leser zur Gastfreundschaft ein. Er präsentiert sein Grundmotiv der sozialen Sinnlichkeit des Menschen mit exquisiten Theoriebausteinen, erlesener Begriffsarbeit, nachhaltigen Argumenten und überzeugender Intention – obwohl Sprache und Gesamtkomposition noch wesentlich straffer, direkter und praxisnäher hätten gestaltet werden können. Ein Werk für sachkundige Genießer.
Burkhart Brückner in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024