»Hilf mir, es selbst zu tun. Zeig mir, wie es geht. Tu es nicht für mich. Ich kann und will es allein tun. Hab Geduld, meine Wege zu begreifen. Sie sind vielleicht länger, vielleicht brauche ich mehr Zeit, weil ich mehrere Versuche machen will. Mute mir Fehler zu, denn aus ihnen kann ich lernen.« (Maria Montessori)
Die Leitsätze der Reformpädagogin Maria Montessori drängen sich auf, wenn es um Konzepte nichtpaternalistischer, inklusiver Lernprozesse geht. Inhaltlich und formal sind sie gut geeignet, den Zugang zu dem vorliegenden Lehrbuch zu weisen.
Rückblende: Mitte der 1990er Jahre – das bundesdeutsche Betreuungsrecht war gerade fünf Jahre alt – durfte ich mit zwei Dutzend frischgebackenen Berufs- und Vereinsbetreuerinnen und -betreuern das Enthospitalisierungsprogramm meines damaligen Anstellungsträgers diskutieren. Eine vor Energie, Selbstvertrauen und Tatendrang sprühende Kursteilnehmerin hat damals folgenden Satz in mein fachliches Langzeitgedächtnis gebrannt: »Wir sind die Bestimmer, hat unser Kursleiter gesagt!« Zur Ehrenrettung des bundesdeutschen Betreuungsrechts muss gesagt werden, dass das mit dem »Bestimmer« so nie im Bürgerlichen Gesetzbuch gestanden hat. Andererseits war 1995 die UN-BRK noch nicht geschrieben, die dem deutschen Betreuungsrecht unterdurchschnittliche Zensuren erteilte, insbesondere wegen der Normierung ersetzender Entscheidungen.
Das erforderliche Umdenken in Behindertenhilfe und Betreuungsrecht folgte der Ratifizierung der UN-BRK mit zeitlicher Verzögerung. Wesentliche Meilensteine waren das Bundesteilhabegesetz von 2016 und die Reform des Betreuungsrechts, zum 1. Januar 2023 in Kraft getreten. Das neue Recht verlangt von sozialpädagogischen und psychiatrischen Fachkräften ebenso wie von rechtlichen Betreuerinnen und Betreuer, ihr Handeln an den Wünschen der Menschen mit Behinderung auszurichten, denen sie als Dienstleister zur Seite gestellt sind. Den gesetzlichen Anforderungen wiederum folgt der Bedarf an Fort- und Weiterbildung.
Patrizia Tolle und Thorsten Stoy lehren an der Frankfurt University of Applied Sciences in den Studiengängen für Pflege und Soziale Arbeit. Ihr Lehrbuch »Unterstützte Entscheidungsfindung in sozialen Berufen« richtet sich sowohl an Fachkräfte der Eingliederungshilfe als auch an rechtliche Betreuerinnen und Betreuer. Wer von dem handlichen 140-Seiten-Buch eine Schnellbesohlung mit fünf, sechs »Anleitungen zur nichtpaternalistischen Gesprächsführung« erwartet, wird allerdings enttäuscht werden. Im Gegenteil – angesichts eines »zunehmenden methodischen Interesses am Thema und der Fokussierung auf die Frage ›Wie ist es zu machen?‹« bestehe die Gefahr, dass der eigentliche Kern des Denkens und Handelns in den Hintergrund gerate. »Dieser Kern bedeutet, dass behinderte Menschen gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben und entsprechend ihr Leben gestalten können.« (S. 10)
Von dieser Überlegung ausgehend vermitteln Tolle und Stoy grundlegende Haltungen, die den Leser und die Leserin zu den erforderlichen Handlungen befähigen sollen. Es geht ihnen »weniger um die Darstellung operationalisierter Verfahrensschritte, sondern vielmehr um Ermutigungen zur dialogischen Begegnung auf der Grundlage substanzieller Inhalte, die als Schlüssel zur ›Unterstützten Entscheidungsfindung‹ begriffen werden können«. (S. 11)
Wer sich auf dieses Konzept einlassen kann, setzt sich den Ideen Maria Montessoris gewissermaßen auf zwei Ebenen aus: Tolle und Stoy begleiten die Lernenden unaufdringlich auf ihrer Suche nach der geeigneten nichtpaternalistischen Haltung; diese wiederum ermöglicht es erst, die Klientin/den Klienten in ihrer eigenen Entscheidungsfindung begleiten und unterstützen zu können. Wem die Verknüpfung beider Ebenen gelingt, der versteht schließlich auch, warum der Satz »Mein Betreuer soll das für mich entscheiden!« noch keine unterstützte Entscheidung ist.
Im mittleren Teil des Buches wird, einem Konzept des 2020 verstorbenen Behindertenpädagogen Wolfgang Jantzen folgend, die Emotionalität von Entscheidungsprozessen beleuchtet. Unterstützte Entscheidungsfindung wird hier als »die Begleitung eines Menschen auf dem Weg vom Bedürfnis zum Zielmotiv beschrieben« (S. 99). Klingt ganz einfach, aber die Komplexität von Jantzens Begrifflichkeiten kann das Lesevergnügen gelegentlich trüben. Im letzten Teil des Buches schließlich werden auf dreißig Seiten die relevanten Begriffe aus UN-BRK und Gesetzestexten erläutert – Rechtssubjekt, Wunsch, Wille, Präferenz, um nur einige zu nennen, werden gut verständlich zur »Unterstützten Entscheidungsfindung« in Beziehung gesetzt.
Der vorliegende utb-Band macht Lust darauf, sozialpädagogische Begleitung und rechtliche Betreuung neu – und gesetzeskonform – zu denken und zu gestalten. Preiswert und lohnend für Betreuende, Mitarbeitende und Träger der Eingliederungshilfe.
Martin Osinski in Soziale Psychiatrie
Letzte Aktualisierung: 26.04.2024